2019
Artur Żmijewski, Plan B (2019), Installationsansicht, Girardigasse, Graz, 2019, Foto: Mathias Völzke
Theater im Bahnhof, MEN/ SCH/ EN/ MAR/ KT – Das Spiel mit dem Teufelskreis (2019) Performance, Markthalle Eggenberg, Graz, 2019, Foto: Johannes Gellner
Jule Flierl, Dissociation Study (2019), Performance, Congress Graz, 2019, Foto: Clara Wildberger; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin
Andreas Siekmann, Nach Dürer (2019), Installationsansicht, Griesplatz, Graz, 2019, Foto: Mathias Völzke; © Bildrecht, Wien 2021
Elmgreen & Dragset, Echte Grazer Bernhardkugeln (2019), Congress Graz, 2019, Foto: Liz Eve; © Bildrecht, Wien 2021
steirischer herbst ’19
Grand Hotel Abyss
Intendanz
Ekaterina Degot
Festivaldaten
19.9.–13.10.2019
Kuratorisches Team
Intendantin und Chefkuratorin
Ekaterina Degot
Stellvertretende Intendantin
Henriette Gallus
Leiter der Kuratorischen Belange
Christoph Platz
Senior Curator
David Riff
Kurator:innen
Mirela Baciak
Dominik Müller
„Der Titel des heurigen Kernprogramms lautet Grand Hotel Abyss (Grand Hotel Abgrund) – eine treffende Metapher des Philosophen Georg Lukács. Lukács beschrieb das Lebensgefühl europäischer Intellektueller und Kulturschaffender als ein „schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrundes, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrundes, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen“. Lukács’ Bild entspricht der Selbstdarstellung von Graz und der umliegenden Steiermark als kulinarische und ästhetische Wohlfühlzone – eine der zahlreichen Blasen aus gehobener Gastronomie, Wellness und Bio-Komfort, die in Zeiten wachsender Ungleichheit entstehen, in denen das Lob althergebrachter Erzeugnisse gruselige kryptonationalistische Untertöne haben könnte, und wo der Abgrund der radikalen sozialen Ausgrenzung, der Wirtschaftskrisen und des militärischen Konflikts um die Ecke lauert oder in Zeitlupe auf uns zukommt.“
—e-flux newsletter
„Den Gegensatz zwischen einem angenehmen Leben und der Angst vor der Apokalypse, den Zusammenhang zwischen Genuss (ein in der Steiermark gern gebrauchter Begriff) und Vergessen findet man überall. In diesem Jahr führen die Aufführungen und Performances, Installationen und Filme des Festivals Sie von einem am Brexit leidenden Großbritannien bis zu einem bizarren modernistischen Hotel in Ex-Jugoslawien und vom prunkvollen österreichischen Kurort Bad Gastein bis in das entlegene Sugdidi in Georgien. Dabei werden Albrecht Dürer, die Französische Revolution, Spionagegeschichten, Äpfel, ein Spiel, bei dem man versucht, nicht arm zu werden, und ein Tanz, der uns etwas über Sex in der Zukunft verrät, eine gewisse Rolle spielen. Auch der Philosoph Georg Lukács, der die Wendung „Grand Hotel Abgrund“ in den 1930er-Jahren prägte, wird uns zublinzeln, durch eine Sammlung einzigartiger, von uns zusammengetragener Objekte, die mit seinem abenteuerlichen Leben in Verbindung stehen könnten.“
—Guidebook
In ihrem zweiten Jahr als Intendantin und Chefkuratorin des steirischen herbst bauten Ekaterina Degot und ihr Team auf der Bedeutung des „Genuss“ gerade im Kontext der Steiermark auf und luden ein ins Grand Hotel Abyss. Der Titel war dem marxistischen Philosophen Georg Lukács entlehnt, der in seiner Kritik an der Frankfurter Schule das Bild von linken Intellektuellen zeichnete, die in einem fiktiven Luxusresort am Abgrund sitzen und sich in theoretischen Auseinandersetzungen verlieren, während draußen Kapitalismus und Faschismus die Macht übernehmen. Das Bild spiegelte treffend den konformistischen Hedonismus der europäischen Wohlstandsgesellschaft und jetsettenden Kunstwelt wider, die in Abschottung einen von Konsum geprägten Lebensstil führt, während der immer schneller voranschreitende Klimawandel das Leben auf der Erde bedroht, das Mittelmeer zum Massengrab für Flüchtende wird und rechtsnationalistische Kräfte global auf dem Vormarsch sind. Die „Genusshauptstadt“ der Steiermark lieferte eine adäquate Kulisse für solch ein dekadentes Hotel am (europäischen) Abgrund.
Die Eröffnungsrede von Ekaterina Degot und die Eröffnungsperformance von Zorka Wollny fanden im bewusst gewählten Renaissance-Hof des herrschaftlichen Grazer Landhauses statt, ein Wahrzeichen für das „Komplott von Kultur und Macht“, wo auch Hanns Koren 1968 die erste Festrede gehalten hatte. Es folgte eine „Eröffnungs-Extravaganza“ im pompösen Congress Graz, wo livrierte Kellner Champagner und Horsd’œuvres servierten (als Teil der Performance Tricks for Tips von Manuel Pelmuş), während die Gäste performative Ansprachen, Installationen, Performances oder Tanztheater von Künstler:innen wie Cibelle Cavalli Bastos, Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata, Gernot Wieland oder Erna Ómarsdóttir & Valdimar Jóhannsson erleben konnten. Auch die Edition Echte Grazer Bernhardkugeln von Elmgreen & Dragset wurde hier angeboten – Welcome to the „Pleasant Apocalypse“.
Oscar Murillos Installation im Palais Attems bezog sich auf die Politik der Gegenreformation und die koloniale Vergangenheit des barocken Stadtschlosses, das einst die bedeutendste Kunstsammlung der Steiermark beherbergte (und wo nach dem Krieg die britischen Besatzer die ersten Grazer Festspiele ins Leben riefen). Gesellschaftliche, ökonomische und private Abgründe taten sich an weiteren Stellen in Graz auf: in Jeremy Dellers Film Putin’s Happy über das Chaos der Pro-Brexit-Kundgebungen auf dem Londoner Parliament Square und Jasmina Cibics mehrteiligem Filmessay über Architektur als politisches Geschenk im Künstlerhaus; in Artur Żmijewskis düster-ambivalenter, von der Prepper-Szene inspirierter Installation Plan B im Keller einer inszenierten Änderungsschneiderei in der Girardigasse (der ersten Installation des Künstlers überhaupt); in Andreas Siekmanns Monument Nach Dürer auf dem Griesplatz, einer zeitgenössischen Interpretation von Albrecht Dürers nie realisiertem Denkmal für die besiegten Bauern (1525); oder in Michael Portnoys 4-Kanal-Installation Progressive Touch: Series 1 in der Helmut List Halle, in der Tänzer:innen akrobatisch perfektionierten „besseren“ Sex performten.
Im Orpheum inszenierten Keti Chukhrov und Guram Matskhonashvili den Global Congress of Post-Prostitution, und im Literaturhaus erzählten Ekaterina Degot und David Riff in der Installation The Life and Adventures of GL eine fiktionalisierte Version des Lebens von Georg Lukács.
Neben den Installationen, Performances und Ideen im Kernprogramm des Grand Hotel Abyss kamen in diesem Jahr noch Interventionen und Gegenpositionen hinzu, zum Parallelprogramm und dem musikprotokoll das Murauer Projekt STUBENrein „als Festival im Festival“. Wie im Vorjahr gab es die herbstkantine (ehemals herbst Bar).
Programm
Grand Hotel Abyss
Eröffnungszeremonie
Eröffnungs-Extravaganza
Installationen
Performances
Keti Chukhrov / Guram Matskhonashvili
Ariel Efraim Ashbel and friends
Blanka Rádóczy / Vladimir Sorokin
Andrei Stadnikov mit Vanya Bowden, Shifra Kazhdan und Dmitry Vlasik
Gegenpositionen
Visuelle Identität und Raumintervention
Interventionen
Ideen
Hasso Spode
Der Tourismus als Leitfossil der Moderne – Kontinuität und Wandel
Michał Murawski
Politische Ästhetiken architektonischer Schenkungen
Stephan Lessenich
Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis
Weltmaschine : Österreich
Ein Festival von Literaturhaus Graz und steirischer herbst ’19
Beth Stephens und Annie Sprinkle
Die Ökosexuellen kommen!
Evan Calder Williams
Kombinierte und ungleichmäßige Apokalypse Revisited
Aaron Schuster
Die absolute Lust – Eine Geschichte des Genusses
Zur Dialektik von Genuss und Ideologie
Die Weinstraße zwischen Nazis und Putin
STUBENrein
Terry Riley’s In C (Maqam Rast Remodel)
Critical Music musikprotokoll@ARTikulationen
Parallelprogramm
Alte Galerie in Schloss Eggenberg
Pavelhaus / Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark
< rotor > Zentrum für zeitgenössische Kunst
Festivaleröffnung
19.9., 17:00
Landhaushof, Grazer Landhaus
Zorka Wollny, Voicers - Oratorio for Five Speakers and a Listening Crowd
19:00-21:00
Congress Graz
Eröffnungs-Extravaganza: Performances, Installationen und Überraschungsauftritte von Cibelle Cavalli Bastos, Alexander Brener und Barbara Schurz, Das Planetenparty Prinzip, Elmgreen & Dragset, Jule Flierl, Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata, und Manuel Pelmuș
21:00
Special Performances von
Gernot Wieland
Erna Ómarsdottir & Vladimar Jóhannsson
23:00
Konzert von Fatima Spar & The Freedom Fries
Veranstaltungsorte
Akademie Graz
Alte Galerie in Schloss Eggenberg
Congress Graz
Congress Graz, Kammermusiksaal
Congress Graz, Saal Steiermark
Congress Graz, Stefaniensaal
Dom im Berg
Forum Stadtpark
Girardigasse 8 & Palais Attems
Grand Hôtel Wiesler
Grazer Kunstverein
Griesplatz
Großer Minoritensaal
Helmut List Halle
Kunsthaus Graz
Künstlerhaus, Halle für Kunst und Medien
Landhaushof
Literaturhaus Graz
MUMUTH, Haus für Musik und Musiktheater
Maria Verkündigungskirche
Markthalle Eggenberg
Museum für Geschichte (Prunkraum 207)
Next Liberty
Orpheum
Orpheum Extra
Palais Attems
Schlossberghotel–Das Kunsthotel
Theater im Palais
esc medien kunst labor
herbstkantine, Kaiser-Josef-Platz 4
Publikationen
steirischer herbst festival gmbh, Guide Book steirischer herbst ’19 (Graz: 2019)
→ Hier erhältlich
Ekaterina Degot und David Riff (Hg.), A Pleasant Apocalypse. Notes from the Grand Hotel Abyss (Berlin: Hatje Cantz Verlag, 2020)
→ Hier erhältlich
Retrospektive
Retrospektive