2020
Paranoia TV Zentrale (2020), Besucher:innen und Pressezentrum des steirischen herbst ’20, Herrengasse, Graz, 2020, Foto: Clara Wildberger
Akinbode Akinbiyi, Photoautomat (2020), Installationsansicht, Am Eisernen Tor, Graz, 2020, Foto: Mathias Völzke
Liv Schulman, Brown, yellow, white and dead (2020), video still, © Bildrecht, Wien 2021
Joanna Rajkowska und Robert Yerachmiel Sniderman, Night Herons (2020), Videostill, Foto: mit freundlicher Genehmigung der Künstler:innen
Tamar Guimarães mit Luisa Cavanagh und Rusi Millán Pastori, Soap (2020), Videostill, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin
steirischer herbst ’20
Paranoia TV
Intendanz
Ekaterina Degot
Festivaldaten
24.9.–18.10.2020
Kuratorisches Team
Intendantin und Chefkuratorin
Ekaterina Degot
Stellvertretende Intendantin
Henriette Gallus
Leiter der Kuratorischen Belange
Christoph Platz
Senior Curator
David Riff
Kurator:innen
Mirela Baciak
Dominik Müller
„Wir befinden uns mitten in einem Jahr, das bis jetzt alles andere als ‚normal‘ verlaufen ist. Viele Menschen sind verängstigt, wenn nicht gar ein bisschen paranoid. Die Angst vor einer zweiten Welle fördert eine Abscheu vor öffentlichen Räumen – und vor dem Atem potenziell ansteckender Fremder. Noch grundlegender aber ist die Angst vor uns selbst: Jeder von uns könnte das tödliche Virus asymptomatisch verbreiten. Diese Ängste werden so bald auch nicht verschwinden. Es ist schwer genug, sich vorzustellen, dass das Leben nie wieder zur Normalität zurückkehrt. Es ist jedoch nicht weniger beängstigend, sich heute, nach dem ‚Lockdown‘, an diese Normalität zu erinnern." "Offensichtlich ist das Virus nicht schuld an Fremdenfeindlichkeit, an einem als hygienische Norm getarnten Rassismus, an allgegenwärtiger Überwachung und an radikaler Ungleichheit. All das war bereits ‚normal‘, und es ist diese ‚Normalität‘, die das Virus hervorgebracht hat – und die wir fürchten sollten.
Anstatt diese Themen zu verdrängen, setzt sich der steirische herbst direkt mit ihnen auseinander, indem er sich als Medienkonzern neu erfindet. Paranoia TV nennt sich der Kanal für das Unheimliche und Beunruhigende, der aus einem dystopischen Paralleluniversum sendet, in dem es so etwas wie Kultur zur Besänftigung der Gemüter nicht gibt. Die Social-Distancing-Regeln gelten nach wie vor, Fußballspiele und Partys sind verboten, und selbst die Waren im Supermarkt haben Ohren. Kunst wird direkt nach Hause geliefert, Künstler*innen müssen in ihrer Küche arbeiten, das Private ist noch politischer geworden, und der öffentliche Raum lässt sich nur noch einsam und schlafwandlerisch durchqueren. White Cubes, teure Kunsttransporte und weltweite Jetset-Reisen: Könnte es sein, dass man sie nicht vermissen wird?"
"Zwischen 24. September und 18. Oktober sendet Paranoia TV auf den unterschiedlichsten Frequenzen. Die Sendungen sträuben sich vehement gegen ‚normale Formate‘ und tauchen kopfüber in das unheimliche Tal der ‚Lockdown‘-Nostalgie ein.“
—Paranoia TV website
Im Jahr 2020 wurde – pandemiebedingt – der öffentliche Raum ins Virtuelle verlegt. Trotz oder vielleicht gerade wegen der außergewöhnlichen Umstände passte dieses dritte Kapitel in das von Ekaterina Degot und ihrem Team angelegte Konzept eines fortlaufenden, semi-fiktiven Gesellschaftsspiegels. So ließ sich das Festival „im Einklang mit seinen Wurzeln in der Avantgarde“ rigoros auf neue Formate ein. In Reaktion auf die Ängste, Psychosen und Verunsicherungen seiner Zeit erfand sich der steirische herbst ’20 als Medienkonzern Paranoia TV neu: ein Kanal für das Unheimliche und Beunruhigende, der aus einem dystopischen Paralleluniversum sendet.
Ein virtueller Avatar von Sigmund Freud gab einen ersten Einblick in diese Welt. Durch Deepfake-Technologien wieder zum Leben erweckt, erklärte der Vater der Psychoanalyse als „Paranoia-Experte“, was Besucher:innen auf der neuen Plattform erwartete. Dank künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen beantwortete der Avatar in interaktiven „Therapiesitzungen“ brennende Fragen und unterhielt sich mit seinen Patient:innen über die Ängste und Unsicherheiten der heutigen Zeit.
Am Eröffnungstag strahlten hundert über die Grazer Innenstadt verteilte Monitore eine voraufgezeichnete Eröffnungsrede von Ekaterina Degot aus, während diese live vor dem Orpheum eine andere hielt. Das Grafikdesign im Testbild-Look stammte von Grupa Ee. Eine eigens entwickelte App bot rund um die Uhr Zugriff auf das Universum von Paranoia TVmit Videos, Hörspielen, Serien, Live-Talks und Onlinespielen wie Neïl Beloufas Screen Talk oder Year 01 von Alexandra Pirici und Jonas Lund, in dem man sich mit poetischen Textbotschaften im Lockdown-Alltag zurechtfinden musste.
Die Eröffnungsperformance Das Finale von Janez Janša war eine der wenigen, die im physischen Raum stattfand. Zu den 55 Auftragswerken von mehr als 52 Kunstschaffenden und Kollektiven gehörten unter anderem: die essayistische Dokumentation Artworks Made at Home von Ahmet Öğüt, in der Werke der jüngeren Kunstgeschichte vorgestellt wurden, die von zuhause aus produziert wurden; Filmproduktionen von Dani Gal, Joanna Rajkowska und John Smith; und TV-Serien von Liv Schulmann, Lina Majdalanie & Rabih Mroué und Tamar Guimarães.
Susanne Sachsse, Marc Siegel und Xiu Xiu präsentierten das von Paul B. Preciado (nach Deleuze und Guattari) inspirierte Hörspiel YOU’RE SO PARANOID, YOU PROBABLY THINK THIS RADIOSHOW IS ABOUT YOU, während Ingo Niermanns Web-Serie Deutsch Süd-Ost von einer bizarren deutschen Enklave erzählte, die von einer sich bedroht fühlenden Spezies besiedelt wird: „den letzten weißen Männern“. Weiterhin gab es einen populären Fotoautomaten von Akinbode Akinbiyi und Kunst und Druckwaren zum Mitnehmen von Roee Rosen, Judy Radul, Gelatin und Studio Asynchrome.
In Ideen, dem Diskussionsformat von Paranoia TV, debattierten Expert:innen aus Kunst, Politik und Philosophie, darunter Franco „Bifo“ Berardi, Eva Illouz, Srećko Horvat, Adam Kleinman, Achille Mbembe, Milo Rau, Hito Steyerl, Natascha Strobl und Yanis Varoufakis über die aktuelle Weltlage, Paranoia und das Virus.
Ergänzt wurde Paranoia TV von einem umfangreichen Parallelprogramm lokaler Institutionen, einer Konferenz zu utopischem Denken im Forum Stadtpark sowie den Festivals im Festival musikprotokoll, STUBENrein und Out of Joint. Das Literaturfestival, Teil einer auf drei Jahre angelegten Kooperation mit dem Literaturhaus Graz, fand in diesem Jahr zum ersten Mal statt.
Programm
Paranoia TV
Serien
Christian von Borries und Jonathan Aner
Tamar Guimarães mit Luisa Cavanagh und Rusi Millán Pastori
Filmpremieren
Onlinespiele
Hörspiel und Podcast
Ideen
Srećko Horvat im Gespräch mit Yanis Varoufakis
Another Now
Milo Rau im Gespräch mit Robert Pfaller und Natascha Strobl
Angst, Identität und Paranoia
Adam Kleinman und Gäste
The Three Plagues: Conversations from New York
Srećko Horvat im Gespräch mit Ece Temelkuran
COVID-19: The Emotional Revolution
Adam Kleinman und Gäste
The Three Plagues: Conversations from New York
Mark Waschke, eingerichtet von Hito Steyerl
Drah di ned um
Adam Kleinman und Gäste
The Three Plagues: Conversations from New York
Hito Steyerl im Gespräch mit Mark Terkessidis
Cancel Culture: Identitäre Bewegung 2.0?
Srećko Horvat im Gespräch mit Eva Illouz
Home’s Not Merely Four Square Walls
Milo Rau im Gespräch mit Achille Mbembe
The Paranoia of the Western Mind
Performances
Give-aways
Interventionen
Out of Joint
Konferenz
STUBENrein
musikprotokoll dynamic streaming
The Hidden Environment—The Feeling of the Cave
Parallelprogramm
Grätzelinitiative Margaretenbad
Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark / Catrin Bolt
Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien
< rotor > Zentrum für zeitgenössische Kunst
Festivaleröffnung
24.09., 20:00
Janez Janša - Das Finale (2020)
Veranstaltungsorte
Akademie Graz
Am Eisernen Tor
Aussichtsplattform Radetzkybrücke
Burgring
Dom im Berg
EUROSPAR Sackstraße & SPAR Central Train Station
Feldbach, Graz und Paranoia TV
Forum Stadtpark
Grazer Kunstverein
Helmut List Halle
Literaturhaus Graz
MUMUTH Haus für Musik und Musiktheater der Kunstuniversität Graz (KUG)
Museum der Wahrnehmung MUWA
Oper Graz
Orpheum
Orpheum Extra
Palais Meran
Paranoia TV
Paranoia TV Zentrale
Schlossberghotel – Das Kunsthotel
esc medien kunst labor
Publikationen
steirischer herbst festival gmbh, Paranoia TV Programmzeitschrift steirischerherbst’20 (Graz: 2020)
Ekaterina Degot und David Riff (Hg.), There Is No Society? Individuals and Community in Pandemic Times (Köln: Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, 2021)
→ Hier erhältlich
Ekaterina Degot und David Riff (Hg.), Paranoia TV: steirischer herbst ’20 (Köln: Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, 2021)
→ Hier erhältlich
Retrospektive
Retrospektive