Veronica Kaup-Hasler

2006–2017

Ende September 2004 wurde die deutsch-österreichische Dramaturgin und Festivalkuratorin Veronica Kaup-Hasler zur Intendantin des steirischen herbst berufen, den sie von 2006 bis 2017 leitete. Somit wurde erstmals eine ausgewiesene Performance- und Theaterexpertin zur Leiterin ernannt, was sich auch auf die Struktur und die Identifikation des steirischen herbst als Mehrspartenfestival mit Schwerpunkt auf innovativen Theaterproduktionen auswirkte. Dies zeigte sich insbesondere an der Schaffung einer dramaturgischen Abteilung, die viele Formate des Festivals eigenverantwortlich gestaltete. Zusammen mit Kaup-Hasler startete 2006 Florian Malzacher als Leitender Dramaturg und Kurator (bis 2012). Ihm folgten 2007 Kira Kirsch als Dramaturgin (2013–15 Leitende Dramaturgin und Kuratorin) und Reinhard Braun als Kurator Bildende Kunst (bis 2010), eine Position, die später Luigi Fassi (2013–17) besetzte. Von 2015 bis 2017 war Martin Baasch Leitender Dramaturg und Kurator.

Weiterhin gab es bis 2012 einen Künstlerischen Beirat bestehend aus Hannah Hurtzig, Berno Odo Polzer, Goran Sergeij Pristaš, Georg Schöllhammer und Gesa Ziemer, ab 2009 erweitert durch Cosmin Costinas und Diedrich Diederichsen. Kaufmännische Direktor:innen waren Richard Schweitzer (2006–08), Martin Walitza (2009), Artemis Vakianis (2010–13), Floridus Kaiser (2014–15) und Agnes Wiesbauer (2016–17).

Kaup-Hasler und ihr Team verstärkten insbesondere die interdisziplinäre Natur des Festivals durch zahlreiche neue diskursive Reihen und Einzelformate sowie einen thematischen Fokus, der die verschiedenen Sparten verknüpfte. Eine Verdichtung der einzelnen Festivalstränge wurde zudem durch eine Verkürzung der Laufzeit auf vier Wochen erreicht. Bei den vielen internationalen Ur- und Erstaufführungen in den Bereichen Theater, Tanz und Performance, die einen Schwerpunkt dieser Intendanz bildeten, handelte es sich kaum um herkömmliche Theaterproduktionen. Ein besonderer Fokus lag auf gemeinsamen Produktionen mit anderen internationalen Theaterfestivals sowie Gastspielen, die erstmals im deutschsprachigen Raum zu sehen waren. Diese Aufführungen wurden in der Regel in auf einer der Bühnen der Grazer Spielstätten gezeigt (Orpheum, Dom in Berg und Kasemattenbühne), die für das Festival angemietet wurden.

Gleichzeitig wurde die bildende Kunst thematisch stärker eingebunden – erstmals gab es eine eigene herbst-Ausstellung, für die man jeweils externe Kurator:innen verpflichtete. Ausstellungen privater Galerien oder Museumsausstellungen, die inhaltlich nichts mit dem Festivalthema zu tun hatten, gehörten fortan nicht mehr zum Programm. Stattdessen gab es Strategien, die lokale Szene durch Ausstellungen, die sich in das jeweilige Leitmotiv integrierten, am Festival teilhaben zu lassen.

Ab 2006 bündelte ein von jungen Architekturbüros gestaltetes Festivalzentrum, das jährlich wechselnd an einem anderen öffentlichen Ort in Graz eine architektonische und künstlerische Setzung vornahm, die Festivalaktivitäten mit Workshops und der herbst Bar, die ab 2009 wieder jedes Jahr stattfand. 2006 schlug dieses „Herz“ in dem von Stephen Craig eigens dafür umgestalteten Künstlerhaus im Stadtpark, im Jahr darauf wurde auf dem Karmeliterplatz ein eigenes temporäres Theater gebaut, und 2008 zog das Festivalzentrum in das leerstehende Joanneum. Die offiziellen Eröffnungen fanden (mit Ausnahme von 2012) jeweils in der Helmut List Halle statt.

Die – teils konkreten, teils mehrdeutig lesbaren – Leitmotive, die als roter Faden durch das Programm führen sollten, lauteten etwa: Kontrolle, Kollaboration, Teilhabe und offene Quellen (2006), Nahe genug (2007), Strategien zur Unglücksvermeidung (2008), All the Same (2009), Truth is concrete (2012), Liaisons dangereuses: Alliancen, Mesalliancen und falsche Freunde (2013), I prefer not to … share! (2014) oder Where Are We Now? (2017). Die Programmhefte behielten zwar die Untergliederung in die Genres bildende und darstellende Künste, Musik und Theorie bei, doch wurde die interdisziplinäre Ausrichtung aller herbst-Veranstaltungen grafisch mit unterschiedlichen Stempeln markiert, die spielerisch die jeweiligen Zutaten in Prozenten angaben – etwa „63 % Theater, 37 % Literatur“ oder „33 % Aktivismus, 33 %Theorie, 33 % Kunst“.

Zu den neuen diskursiven Formaten gehörte die herbst-Akademie – bestehend aus Workshops und einem herbstCamp, die Festivalteilnehmer:innen über einen längeren Zeitraum hinweg einband. Erstmals erschien ab 2006 ergänzend zum Programmheft ein eigenes Magazin, herbst. Theorie zur Praxis, in dem Festival-Akteur:innen und andere Autor:innen die jeweiligen Themen vertieften. Weitere Theorie-Formate waren die offene Vortrags- und Gesprächsreihe Open Ups, performative Konferenzen wie 2006 Wörterbuch des Krieges (Idee und Konzept: Unfriendly Takeover / Multitude e. V.) und die Spielfeldforschung (Idee und Konzept: Gesa Ziemer) – das theoretische Rückgrat des Festivals, das sich parallel zum Programm vertiefenden Untersuchungen widmen sollte, „nicht als akademische Wissenschaft, die sich der Kunst als Objekt nähert, sondern als flanierende Möglichkeit, sich selbst der Kunst auszusetzen“ (Kaup-Hasler im Programmheft ’06). Ab 2006 führte das Festival ebenfalls das virtuelle literarische Tagebuch Randnotizen, für das Beteiligte aus Literatur, bildender Kunst und Netzdiskurs als Stadtschreiber:innen, Protokollant:innen und Beobachter:innen fungierten. Von 2009 bis 2017 wurde das Programm im Festivalzentrum zusätzlich von der Videodokumentation herbst remixed begleitet.

Von den bestehenden autonomen Reihen des steirischen herbst wurde lediglich das musikprotokoll des ORF übernommen, das sich in dieser Zeit jedoch als autonomes „Festival im Festival“ verselbstständigte und als solches bis heute weiterexistiert. Für die Eröffnungen entwickelten steirischer herbst und musikprotokoll jedoch öfters Produktionen, die den Rahmen des Musikfestivals sprengten. Musiksymposion, Mürz Werkstatt, Jugendmusikfest Deutschlandberg und K.U.L.M. endeten mit Peter Oswalds Intendanz.

Internationale Beachtung fanden insbesondere die Produktionen – darunter viele Auftragsarbeiten und Kollaborationen – unter den Rubriken Theater, Tanz und Performance, mit internationalen, interdisziplinär arbeitenden Truppen und Akteur:innen wie Lone Twin (2006), Nature Theater of Oklahoma (2007, 2008, 2014, 2017), Lola Arias (2007, 2009, 2010), Tim Etchells (2006, 2007), Rimini Protokoll (2009, 2015), Forced Entertainment (2009), Gisèle Vienne (2008, 2010), Anne Teresa De Keersmaeker (2011, 2015), Young Jean Lee (2012, 2014), Needcompany (2014) oder Rabih Mroué (2012, 2017). Insgesamt konnte der steirische herbst in den zwölf Jahren unter Kaup-Haslers Intendanz seine Präsenz außerhalb von Graz sowie seine internationale Reichweite verstärken: 2007 wurde das Festival Teil des von der Europäischen Union geförderten Kulturnetzwerks NXTSTP.

Zu den Ausstellungshighlights gehörte das von Sabine Breitwieser kuratierte, über zwei Jahre verteilte Projekt Utopie und Monument (2009 und 2010), für das internationale zeitgenössische Künstler:innen wie Lara Almarcegui, Kader Attia, Nairy Baghramian, Ayşe Erkmen, Isa Genzken, John Knight oder Andreas Siekmann im öffentlichen Raum Arbeiten zu den umstrittenen Begriffen im Titel realisierten. Darüber hinaus brachte der steirische herbst vermehrt bildende Kunst in die umliegende Steiermark, etwa mit Ulla von Brandenburgs Wolken lösen sich in Wasser in der Porubsky-Halle Leoben.

Im Jahr 2012 reagierte der steirische herbst auf die rasanten Veränderungen, Krisen und Umbrüche weltweit, die Bewegungen wie den Arabischen Frühling oder Occupy hervorbrachten, mit dem „24/7-Marathon-Camp“ Truth is concrete (kuratiert von Anne Faucheret, Veronica Kaup-Hasler, Kira Kirsch und Florian Malzacher; Idee und Konzept: Florian Malzacher). Über 200 Teilnehmer:innen aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus – darunter der kolumbianische Philosoph und Politiker Antanas Mockus, die Theoretikerin Chantal Mouffe oder die radikale russische Künstlergruppe Woina – analysierten über eine Woche 24 Stunden täglich künstlerische Strategien in der Politik und politische Strategien in der Kunst. Das aus verschiedenen Arbeits- und Wohnmodulen, Bibliothek und Ausstellungsraum bestehende Camp am Opernring wurde vom raumlaborberlin gestaltet. Zu der im Rahmen des steirischen herbst einzigartigen Veranstaltung erschien ein eigenes Programmheft sowie 2014 die Publikation Truth is Concrete: A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics.

2017 feierte der steirische herbst sein 50-jähriges Bestehen – gleichzeitig war es das letzte Jahr unter Veronica Kaup-Hasler. Die Kinder der Toten (2017), die vierwöchige Performance und erstmalige Verfilmung von Elfriede Jelineks gleichnamigem Roman an Originalschauplätzen in und um Neuberg an der Mürz mit Mitgliedern des Nature Theater of Oklahoma, gehörte sicher zu den aufwendigsten Produktionen ihrer Ära. Der Film feierte auf der Berlinale Premiere, wo er 2019 den FIPRESCI-Preis gewann, und wurde im Anschluss auf über sechzig internationalen Filmfestival gezeigt.

Biografie

Foto: Fotosoesin

Veronica Kaup-Hasler
(*1968 in Dresden, Deutschland)

Dramaturgin und Kulturmanagerin

Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik

1993–95 Dramaturgin am Theater Basel
1995–2001 Festivaldramaturgin der Wiener Festwochen
2001–2004 Leiterin des biennalen Festival Theaterformen
2006–2017 Intendantin und Geschäftsführerin des steirischen herbst
2018– Amtsführende Stadträtin für Kultur und Wissenschaft, Wien

Lehrtätigkeit
1998–2001 Lehrbeauftragte an der Akademie der Bildenden Künste Wien
Paris Lodron Universität Salzburg, Ludwig-Maximilian-Universität München (Lehrgang Kuratieren in den szenischen Künsten), Leibniz Universität Hannover, Technische Universität Braunschweig, Universität Hamburg

Veröffentlichungen (Auswahl)
Hg. mit Florian Malzacher et al.: Truth Is Concrete. A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics. Berlin: Sternberg, 2014.
Hg. mit Christiane Kühl et al.: Where Are We Now? Positionen zum hier und jetzt: Positions on the Here and Now. Berlin: The Green Box, 2017.

Festivalausgaben

Retrospektive
Retrospektive
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