Horst Gerhard Haberl

1990–1995

Nach einem kulturpolitischen Streit um die Nachfolge Peter Vujicas setzte sich schließlich Horst Gerhard Haberl gegen den Künstler und Medientheoretiker Richard Kriesche durch. Als Mitglied des Programmkuratoriums seit 1969 war Haberl wie Vujica seit den Anfangsjahren eng mit dem steirischen herbst verbunden. Der ehemalige Mitarbeiter von Wilfried Skreiner an der Neuen Galerie wechselte 1969 zum Grazer Schuhunternehmen Humanic, wo er als Art Director und Werbechef die innovative künstlerische Werbelinie „Franz“ kreierte und später die firmeneigene Galerie H betrieb.

Im selben Jahr gründete er mit Richard Kriesche und Karl Neubacher die interdisziplinäre Kunstproduzentengruppe pool und 1974 den Aktionsraum poolerie. Als Kurator verantwortete Haberl einige der aufsehenerregendsten international und intermedial ausgerichteten Ausstellungen des herbst: Körpersprache ‒ Bodylanguage in einem Zelt im Grazer Volksgarten (1973), Der Amerikanische Video-Underground (als Beitrag zu trigon 73: Audiovisuelle Botschaften, 1973), Kunst als Lebensritual in der poolerie (1974) sowie Die Barocken Wilden in der Alten Galerie und Mythen der Zukunft an verschiedenen Orten in Graz (1983).

Als zweiter Intendant suchte Horst Gerhard Haberl für den steirischen herbst einen konzeptuellen Angelpunkt im gesellschaftspolitischen Kontext der Gegenwartskunst und ihres erweiterten Kunstbegriffs. Zusammen mit dem Philosophen Peter Strasser – neben Werner Krause (Theater, Literatur) und Cathrin Pichler (bildende Kunst, ab 1992) im Programmbeirat – konzipierte er 1989 eine „Art Unternehmensphilosophie“1 für den steirischen herbst, die die Präsentation und Diskussion grenzübergreifender Phänomene in der Kunst und im Kulturverhalten der Neunzigerjahre neu definieren sollte. Ein „Festival der Gegenwartskultur“ sollte den obsolet gewordenen Avantgardebegriff der Sechziger- und Siebzigerjahre sowie die Erschöpfung jeder Innovation in den Achtzigern ablösen. „Die Ideale der Gegenbewegung lauten: Sorgfalt, Genauigkeit, Sinngebung und Aufbau neuer Beziehungsfelder, daraus resultierend: Etablierung neuer kultureller Verhaltensformen“ (Programmheft ’90).

Der steirische herbst sollte ein Ort der Begegnung mit „nomadischen“ Strategien der Kunst am Ende der Postmoderne sein. Horst Gerhard Haberl stellte die Jahre seiner Intendanz nach Deleuze und Guattari unter den Überbegriff Eine Nomadologie der Neunziger, der die einzelnen Leitmotive miteinander verband. Damit kündigte er gleichzeitig einen Paradigmenwechsel für die kommende Dekade an. „Mit der Nomadologie der Neunziger will der steirische herbst zur Kultur der Mobilität überleiten, als möglichen dritten Weg jenseits von Avantgarde und Postmoderne“, schrieb Haberl im Programmheft ’90.

Diese Neuausrichtung ging einher mit der zunehmenden Globalisierung und der damit verbundenen Nomadisierung der Kunstwelt in den 1990ern, wie sie sich etwa im Entstehen unzähliger neuer Biennalen in allen Regionen der Welt ausdrückten. Haberl und Strasser ging es jedoch weniger um Globalisierung oder die weltweiten Fluchtbewegungen, sondern es sollten „neue Gesichtspunkte einer geistigen Mobilität, einer gelebten Interdisziplinarität und nomadisierenden Sensibilität“ aufgegriffen werden, die „einerseits den gesellschaftspolitischen Kontext des gegenwärtigen Kunst- und Kulturverhaltens reflektieren, andererseits wider die Entweder-Oder-Fixiertheit scheinbar disparater Disziplinen in Kunst, Wissenschaft, Technologie, Politologie etc. gerichtet sind“.2

Um dem theoretischen Überbau eines nomadischen Denkprinzips ein Fundament zu geben, führten Haberl und Strasser die Herbstschrift als literarisches Forum zur Nomadologie der Neunziger ein. Zum herbstbuch eins steuerten Autoren wie Vilém Flusser, Peter Sloterdijk, Adolf Holl, Franz Schuh, Thomas Macho, Peter Jirak und Peter Strasser Essays bei.

Das erste Leitmotiv von Haberls Intendanz lautete auf, und, davon. Die Zeichensetzung verweise „auf Rückbezügliches, auf ein Davon-Kommendes, auf Möglichkeiten, die wieder hoffen lassen“ – ganz im Sinne des Festredners Vilém Flusser: „Für die Nomaden ist das Besitzen von Begriffen ein Wahnsinn. Und für die Sesshaften ist das undefinierte Herumschweifen ein sinnloses Geschwafel. Aber: Wir sehen nicht mehr ein Nichts, sondern konkrete (wenn auch unsichtbare) Beziehungsfelder“ (Programmheft ’90). Dem nomadischen Prinzip des Zeltes entsprechend schrieb Haberl 1990 in der Alten Remise einen Architekturwettbewerb für eine mobile Veranstaltungshalle als „Zeichen kultureller und intellektueller Beweglichkeit“ aus.

Unter Haberls Intendanz fielen, mit Johannes Frankfurter als Dramaturg, spektakuläre Theateruraufführungen von Botho Strauß (1991), Werner Schwab (1992, 1993), Urs Widmer (1993) und Christoph Schlingensief (1995) sowie eine Opernpremiere von Beat Furrer (1994). Darüber hinaus gab es Kunstaktionen wie die Monumentalskulptur Lichtschwert von Hartmut Skerbisch (1992) und Events wie die Grazer Combustion (1993) – einen „kontroversiellen Zyklus am, im, und um den Grazer Schloßberg in Form einer Ausstellungs-Inszenierung und einer dichten Performance-Serie“ – sowie einer Schlagerrevue. Ein besonderes Augenmerk lag auf der Wahrnehmung des steirischen herbst außerhalb von Graz mit Projektreihen wie der Mürztaler Werkstatt, dem Hör-Fest Steinach, der Kulturinitiative Schreams oder dem Kult-Ur-Weg-Pischelsdorf.

Mit dem vielsagend resümierenden Leitmotiv Die Kunst ist aus, das Spiel geht weiter. Das Spiel ist aus, die Kunst geht weiter endete Haberls Intendanz 1995. Zwei Jahre zuvor hatte er mit Peter Strasser ein Konzept für eine inhaltliche Neubegründung des steirischen herbst erstellt, das im Zusammenhang mit dem geplanten Neubau eines Kunsthauses in Graz stand und auf der Erkenntnis beruhte, dass „der begrenzte Zeitraum eines Festivals nicht ausreicht, um zukunftsorientierte ästhetische Problemstellungen oder entsprechende interdisziplinäre Forschungsobjekte vorzustellen und lesbar zu machen“. Das Konzept scheiterte jedoch laut Haberl am parteipolitischen Pragmatismus auf Landesebene.

1995 fand auch die trigon-Biennale zum letzten Mal statt. Ihre Relevanz hatte sich mit dem Ausscheiden Wilfried Skreiners, der immer stärker interdisziplinären Ausrichtung des Festivals sowie den politischen Umwälzungen nach dem Zerfall Jugoslawiens erschöpft.

Man kann etwas Verbitterung in Horst Gerhard Haberls Abschied lesen. Peter Strasser, tonangebendes Mitglied in seinem Beirat, formuliert es so: „Wenn ich bis damals nicht gewusst haben sollte, zu welcher Niedrigkeit sogenannte Kulturmenschen fähig sind – damals durfte ich es erfahren.“ Man habe, so Strasser, ihn so lange angeschwärzt, „bis die Medien Gefallen daran fanden, nur noch vom ‚in die Jahre gekommenen Festival‘“ zu reden.3

1
Horst Gerhard Haberl, „Das nomadische Prinzip“, in Nomadologie der Neunziger. steirischer herbst Graz 1990 bis 1995, hg. Horst Gerhard Haberl und Peter Strasser (Ostfildern: Cantz, 1995).
2
Haberl, „Das nomadische Prinzip“, S. 17.
3
Peter Strasser, „Der Höhepunkt H.G.H.“, in herbstbuch. 1968–2017, hg. Martin Behr et al. (Wien: Styria, 2017), S. 189.

Biografie

Foto: Christian Jungwirth

Horst Gerhard Haberl
(1941, Graz)

Ausstellungs- und Projektkurator, Kulturjournalist, Herausgeber und Autor zahlreicher Publikationen sowie TV-Reportagen (ORF) zu Grenzphänomenen der zeitgenössischen Kunst

Studium der Kunstgeschichte und Philosophie

1967–73 Mitarbeiter und Kurator bei der Neuen Galerie Graz
1969–84 Art Director und Leiter der Abteilung Zukunft bei der Humanic AG, Graz/Wien (danach bis 1995 Art Consultant)
1970–76 Gründungsvorsitzender der Kunstproduzentengruppe pool, Graz/Wien, Mitherausgeber der Kunstzeitschriften pfirsich und pferscha
1973–84 Gründer und Leiter des Interdisziplinären Kommunikations- und Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst galerie H, Graz
1978–80 Künstlerischer Leiter der Internationalen Biennale für Graphik und Visuelle Kunst an der Wiener Secession
1984–88 Kunstkritiker und Leiter des Kulturressorts der Kleinen Zeitung, Graz
1990–95 Intendant des steirischen herbst
1992–2004 Professor für Kunstvermittlung und Designtheorie an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarbrücken (HBKsaar)
1993–2001 Rektor der HBKsaar

Auszeichnungen
2006 Hanns-Koren-Kulturpreis des Landes Steiermark

Veröffentlichungen (Auswahl)
Körpersprache/Body-language (pfirsich 9/10). Graz: Pool, 1973.
Kunst als Lebensritual / Art as Living Ritual (pfirsich 12/14). Graz: Pool, 1974.
Friederike Pezold (pfirsich 15). Graz: Pool, 1975.
Expansion. Internationale Biennale für Graphik und visuelle Kunst. Wien: Verein Zur Durchfuhrung der Internationalen Biennale fur Graphik und Visuelle Kunst, 1979.
Die barocken Wilden. Alte Galerie am Landesmuseum Joanneum. Graz: Droschl, 1983.
„Kunst als Kommunikationsstrategie“. Kunstforum International 87 (1987), S. 242 f.
Hg. mit Peter Strasser: Nomadologie der Neunziger. steirischer herbst, 1990 bis 1995. Ostfildern: Cantz, 1995.

Festivalausgaben

Retrospektive
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