Ekaterina Degot

2018–

Mit der in Moskau geborenen Kunsthistorikerin, Autorin und Kuratorin Ekaterina Degot wurde im April 2017 zum ersten Mal eine nicht aus dem deutschen Sprachraum stammende Intendantin ernannt. Degot war unter anderem für Ausstellungen bekannt, die sich kritisch mit der Kulturgeschichte der ehemaligen Sowjetunion auseinandersetzten, sowie für internationale Schauen wie die erste Bergen Assembly 2013. Die Preisträgerin des renommierten Igor Zabel Awards wurde 2014 unter anderem für ihre „kritischen Stellungnahmen gegenüber der offiziellen Politik ihres Heimatlandes“ geehrt – eine Einstellung, die sie auch in ihrer neuen Heimat Österreich nicht ablegte.

Mit Degot als Intendantin und Chefkuratorin begannen Henriette Gallus als Stellvertretende Intendantin, Christoph Platz als Leiter der Kuratorischen Belange (mit Schwerpunkt auf Kuratieren als Produktion), Degots langjähriger Mitarbeiter David Riff als Kurator für Diskurs, später Senior Curator, und weitere Kurator:innen: Dominik Müller seit 2018, im ersten Jahr auch Övül Ö. Durmusoglu und Katalin Erdödi, im zweiten und dritten Mirela Baciak. Die Kulturvermittlung nannte sich (bis 2021) in Büro der Offenen Fragen um. Leiterin der kaufmännischen Belange wurde 2020 Rita Puffer. Die geänderten Titelbezeichnungen des Kernteams und die damit verbundenen Verantwortlichkeiten deuteten bereits eine Umstrukturierung des Festivals an.

Deutlich mehr noch als ihre Vorgängerin Veronica Kaup-Hasler, die in den zwölf Jahren ihrer Intendanz das Festival entscheidend geprägt hatte, verdichtete Ekaterina Degot die einzelnen Festivalstränge zu einer einzigen, über mehrere Orte verteilten Ausstellung mit einem Kernprogramm. Dieses wurde von ihr selbst zusammen mit dem oben genannten Team kuratiert – extern kuratierte Projekte wie etwa die herbst-Ausstellung gab es fortan nicht mehr.

Jede Ausgabe startete mit einer sehr persönlich gehaltenen Eröffnungsrede, die performativ das kuratorische Konzept vorstellte. Das Festival solle Graz jedes Jahr aufs Neue in eine Bühne verwandeln und sich „gleich einer Ausstellung, die von Performances und Diskussionen durchzogen wird“, über die gesamte Stadt erstrecken, so Degot im Grußwort zu ihrem ersten herbst 2018 unter dem provokant-ambivalenten Titel Volksfronten.

Durch die Konzentration auf einen fortlaufenden „Parcours“, der sich sowohl räumlich als auch zeitlich entfaltet und eine Unterteilung nach Gattungen rigoros ablehnt, veränderte Degot die Struktur des Festivals entscheidend. Zum ersten Mal wurde ein Festivalpass eingeführt, mit dem man für den einmaligen Preis von 29 Euro über die gesamte Festivaldauer freien Zugang zu fast allen Ausstellungen und Veranstaltungen des Kernprogramms hatte. Im ersten Jahr wurde er von 2200 Besucher:innen genutzt (aufgrund der durch die Corona-Pandemie veränderten Voraussetzungen wurde der Festivalpass im dritten und vierten Jahr ausgesetzt). Das Onlinemagazin Vorherbst präsentierte bereits vor der Eröffnung umfangreiches vorbereitendes und begleitendes Material und Informationen zum jeweiligen steirischen herbst.

Auch das visuelle Erscheinungsbild änderte sich radikal, nicht zuletzt durch die markante grafische Gestaltung des Designkollektivs Grupa Ee aus Ljubljana, in der sich martialisch anmutende Formen und Symbole überlagern und der Schriftzug „steirischer herbst“ durchgestrichen ist. Aus den Programmheften im Taschenformat wurden Guidebooks, wie man sie eher von Biennalen her kennt. Eine Aufteilung in Sparten wie bildende und darstellende Kunst wurde im ersten Jahr aufgehoben, im zweiten wurde zwischen Installationen und Performances als gleichwertige Bestandteile des Parcours unterschieden.

Diskurs- und Theorie-Formate waren als „Ideen“ Bestandteil der Inszenierung, die sich an ein möglichst breites Publikum richtete und die Rolle des Festivals als ein Form öffentlicher Kunst mit ortsspezifischem und gesellschaftspolitischem Anspruch betonte – weniger auf theoretischer Ebene, sondern als eine Art Politmagazin, das an den öffentlichen Intellekt gerichtet ist. Zu jedem herbst erschien im Nachhinein außerdem ein Reader mit Textbeiträgen und einer umfangreichen Dokumentation des Festivals. Rückwirkend fand unter Ekaterina Degots Intendanz auch eine historische Aufarbeitung des Festivals und seines Archivs statt, wofür eine eigene Stelle geschaffen wurde.

Das musikprotokoll wurde als einzige Reihe, die seit Beginn ein fester Bestandteil des steirischen herbst ist, als „traditionelles Partnerfestival“ gelistet. Ausstellungen und Veranstaltungen Grazer Kultureinrichtungen, die nicht von Ekaterina Degot und ihrem Team selbst kuratiert wurden, bildeten das Begleit- oder Parallelprogramm. Die Beteiligung lokaler Initiativen wurde durch einen „Open Call“ transparent und demokratisch gestaltet.

Mit einigen lokalen Partnern ging das Festival intensivere langfristige Kollaborationen ein. Diese waren das Theater im Bahnhof, ein selbstverwaltetes Theaterkollektiv, das bereits unter Kaup-Hasler häufig zu Gast war, der kritische Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit CLIO und das Literaturhaus, mit dem das über drei Jahre angelegte Festival Out of Joint initiiert wurde. Zwischen 2019 und 2021 nahm der steirische herbst zudem das im abgelegenen Murau situierte Projekt STUBENrein als Partnerfestival mit auf.

Zu den Orten, die in den ersten Ausgaben weiterhin fester Bestandteil des Kernprogramms waren, zählen das Palais Attems als „Headquarter“ des steirischen herbst, das Forum Stadtpark, das Künstlerhaus Graz, die Helmut List Halle, das Orpheum, sowie zahlreiche weitere Orte, die als historische und gesellschaftliche Räume mit ihren eigenen spezifischen Geschichten je nach Thematik des Parcours ausgewählt wurden.

Ein besonderes Augenmerk unter Ekaterina Degots Intendanz lag und liegt weiterhin auf der Produktion neuer, ortsspezifischer Werke, die bis zu hundert Prozent des Festivals ausmachen. Viele der Auftragsarbeiten entstanden auf der Basis längerfristigen Engagements und Forschungsarbeit sowie unter Berücksichtigung der, so die Intendantin, „urbanen und regionalen Narrative in ihrer zuweilen grotesken Beziehung zu globalen Prozessen“. Die Thematisierung sozialer und politischer Dringlichkeiten in Österreich sollte ausgehend vom ursprünglichen trigon-Gedanken Hand in Hand gehen mit einer internationalen Ausrichtung – wobei ein Fokus traditionsgemäß auf Künstler:innen aus Mittel- und Osteuropa lag. Während sich nach wie vor Ungleichheit und Nationalismus in Ost- wie Westeuropa ausbreiten, sei es von entscheidender Bedeutung für das Festival 1968 wie 2018, „das Interesse für die Suche nach Verbindungspunkten und Solidarität erneut zu wecken“. Gerade das Gefühl der Grenzlage, wie es in der Steiermark erfahrbar ist, begünstige „die Sensibilität für andere Grenzregionen, wo die Normalität der globalen Weltordnung in all ihrer Surrealität und unheimlichen Seltsamkeit an deren Rändern auftaucht“.1

Die Titel der ersten fünf Ausgaben spiegelten ebendiese surreale Unheimlichkeit der Stadt Graz als historisches „Bollwerk“ wider: Volksfronten (2018), Grand Hotel Abyss (2019), Paranoia TV (2020), The Way Out (2021) und Ein Krieg in der Ferne (2022). Gemäß diesen suggestiv-ambivalenten Vorgaben, die weniger als Thema fungierten, als Gedankenräume eröffneten, – und den 2020/2021 durch die Corona-Pandemie ganz konkret veränderten Bedingungen – verlagerten sich die Inszenierungen und insbesondere die Eröffnungen von institutionellen und repräsentativen Räumen in den virtuellen Raum und, mit der vorerst letzten Ausgabe, hinaus aus den Institutionen und hinein in den öffentlichen Raum. Nachdem im Jahr des Lockdowns ein direkter Publikumskontakt kaum möglich war und das Programm weitgehend über Bildschirme und den digitalen Äther ablief, verließ das Festival im Folgejahr mit den Covid-Lockerungen den „sicheren“ institutionellen Rahmen und suchte ganz konkret die Begegnung mit dem uneingeweihten Publikum. Der steirische herbst kehrte 2022 in die Institutionen zurück mit einer großen Gruppenausstellung in der Neuen Galerie Graz, die deren Sammlung mit Blick auf unbeachtete Kriege, verborgene Geschichten und verdrängte Konflikte neu interpretierte. Im weiterhin von multiplen Krisen und Bedrohungen gekennzeichneten Jahr 2023 erkundete das Festival anhand schelmischer Figuren und Erzählungen moralische Grauzonen.

1
Ekaterina Degot, „Über Uns“, steirischer herbst, https://www.steirischerherbst.at/de/about/6/steirischer-herbst, aufgerufen am 2.8.2021.

Biografie

Foto: Marija Kanizaj

Ekaterina Degot
(*1958 in Moscow)

Kunsthistorikerin, Kuratorin, Autorin und Journalistin

1981 Abschluss an der Lomonossow-Universität Moskau als Kunsthistorikerin
2004 Doktorat in Kunstgeschichte, Russisches Institut für Kulturforschung

1987–93 Leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin, Tretjakow-Galerie, Moskau
1993–2000 Kunstkritikerin und Kolumnistin (Kunst, Kultur, Gesellschaft, Politik), Tageszeitung Kommersant, Moskau
2000er Kolumnistin (Kultur, Gesellschaft, Politik), Vedomosti sowie andere Zeitungen und Zeitschriften in Moskau
2008–12 Leitende Redakteurin (Kunstressort) des Online-Kulturmagazins OpenSpace.ru
2014–18 Künstlerische Leiterin der Akademie der Künste der Welt, Köln, Initiatorin des zweijährlichen interdisziplinären Festivals Pluriversal

Auszeichnungen
2010 und 2014 Innovacia Staatspreis für das beste kuratorische Projekt in Russland
2014 Igor Zabel Award for Culture and Theory (Hauptpreis)

Lehrtätigkeit (Auswahl)
1998 Fulbright-Stipendiatin, William & Mary, Williamsburg, Virginia
2007–17 Professorin, Alexander-Rodtschenko-Schule für Fotografie und Neue Medien

Ausstellungen (Auswahl)
2000–03 Körpergedächtnis. Unterwäsche einer sowjetischen Epoche (mit Julia Demidenko). Staatliches Museum der Geschichte Sankt Petersburg. Volkskundemuseum Wien.
2003–04 Berlin–Moskau / Moskau–Berlin 1950–2000 (mit Jürgen Harten et al.). Martin-Gropius-Bau, Berlin. Staatliches Historisches Museum, Moskau.
2001 Russischer Pavillon bei der Biennale von Venedig.
2005 Soviet Idealism. Musée de l’art wallon, Lüttich.
2008 Struggling for the Banner. Soviet Art Between Trotzky and Stalin. Neue Manege, Moskau.
2008 Citizens, Mind Yourselves. Dimitri Prigov. MMoMA – Moskauer Museum für moderne Kunst.
2009 Kudymkar – Engine for the Future. PERMM – Staatliches Kunstmuseum Perm / Winzavod CCA, Moskau.
2010 Shockworkers of the Mobile Image (mit Cosmin Costinas und David Riff). Erste Ural Industrial Biennial, Jekaterinburg (Hauptprojekt).
2011 Auditorium Moscow (mit Joanna Mytkowska und David Riff), eine Selbstbildungsinitiative und eine internationale Ausstellung. Vierte Moskauer Biennale. Weiße Kammern (Belye Palaty).
2012 Art After the End of the World. Diskussionsplattform von Arsenale: Erste Kiewer Biennale für zeitgenössische Kunst.
2012 Time/Food (mit Anton Vidokle und Julieta Aranda). Stella Art Foundation, Moskau.
2013 Monday Begins on Saturday (mit David Riff). First Bergen Assembly.
2013–14 What Did the Artist Want to Say with That? (mit Yuri Albert). MMoMA – Moskauer Museum für moderne Kunst.

Veröffentlichungen (Auswahl)
Hg. mit Marta Dziewańska und Ilya Budraitskis: Post-Post-Soviet? Art, Politics and Art, Politics and Society in Russia at the Turn of the Decade. Warschau: Museum of Modern Art – Chicago University Press, 2013.
Hg. mit David Riff und Jan Sowa: Perverse Decolonization? Berlin: Archive Books, 2021 (im Druck).

Festivalausgaben

Retrospektive
Retrospektive
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