2022

steirischer herbst ’22
Ein Krieg in der Ferne

Intendanz
Ekaterina Degot

Festivaldaten
22.9.–16.10.2022

Kuratorisches Team
Intendantin und Chefkuratorin
Ekaterina Degot

Leiter der Kuratorischen Belange
Christoph Platz

Senior Kurator
David Riff

Kurator:innen
Mirela Baciak
Dominik Müller
Gábor Thury

Mit kuratorischer Beratung von Goran Injac

Diesmal findet das Festival vor dem Hintergrund eines Krieges statt – bekanntlich eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, ein Anfall der Politik, die keine anderen Mittel finden konnte. Aber bei dieser Ausgabe geht es nicht um diesen Krieg oder Kriege im Allgemeinen – die Prologausstellung, die sich auf Filme aus der und über die Ukraine konzentrierte, war da schon näher dran. Jetzt geht es eher um einen Ort, der sich einbildet, im Friedenszustand zu sein, während er in Wirklichkeit ein tiefes Hinterland ist und ein Krieg in der Ferne hin und wieder an sich selbst erinnert.
[…]
Wir befinden uns hier im Hinterland vergangener und aktueller Kriege in Jugoslawien und Tschetschenien, in der Ukraine und im Libanon, in Abchasien und Belfast, im Hinterland des Ersten und Zweiten Weltkriegs, des Kolonialismus und des Rassismus. Wir hören diese Schlachten nicht immer toben, aber wir sollten unsere Ohren anstrengen, um diese Geräusche in unserem glücklichen Alltag wahrzunehmen.
—Ekaterina Degot

Im Angesicht des verheerenden Angriffskriegs auf die Ukraine und nur wenige Tage, nachdem Wladimir Putin die Teilmobilisierung Russlands ausgerufen hatte, eröffnete der steirische herbst ’22 unter dem Titel Ein Krieg in der Ferne. Bereits im Juli gab es einen „Prolog“ mit Videoarbeiten ukrainischer Künstler:innen sowie Filmen über die Ukraine vor und während des Krieges. Nach Volksfronten, Grand Hotel Abyss, Paranoia TV und The Way Out adressierte der fünfte steirische herbst unter Intendantin Ekaterina Degot einmal mehr die akute politische Lage aus der Perspektive der Steiermark – die wiederum exemplarisch für die Mitteleuropas steht. Eine Perspektive, aus der die Realität dieses Krieges und vieler vorausgegangener meist in einer sicheren Distanz stattfindet.

In ihrer Eröffnungsrede bezog die Kunsthistorikerin, die Russland 2014 verließ, in klaren Worten Stellung zur Absurdität von Putins Krieg. Anschließend führte der libanesische Künstler Raed Yassin einen theatralen Trauerzug mit Puppen und Blaskapelle vom Hauptplatz zur Neuen Galerie Graz.

Nachdem das interdisziplinäre Festival 2020 pandemiebedingt weitgehend im virtuellen und 2021 fast ausschließlich im öffentlichen Außenraum – auf Straßen und Plätzen in Graz – stattgefunden hatte, konzentrierte sich Ein Krieg in der Ferne im Kern ganz auf eine museale Ausstellung, kuratiert von Ekaterina Degot mit David Riff, Christoph Platz, Mirela Baciak und Barbara Seyerl (steirischer herbst), mit kuratorischer Beratung von Gudrun Danzer und Günther Holler-Schuster (Neue Galerie Graz / Universalmuseum Joanneum). Den Ausgangspunkt bildete die Sammlung der Neuen Galerie Graz. Bisher wenig gezeigte Werke des 19. und 20. Jahrhunderts wurden aus dem Depot hervorgeholt und einer kritischen Neubetrachtung unterzogen, indem sie zeitgenössischen Arbeiten internationaler Künstler:innen gegenübergestellt wurden – darunter Positionen aus der Ukraine wie aus Russland. Über neun thematische Kapitel schuf die Ausstellung assoziative Bezüge zwischen verschiedenen Kriegen und den ihnen vorausgegangen Konflikten und Klassenkämpfen, allen voran die lange, in der Sammlung sehr präsente Geschichte kolonialer Ausbeutung, Exotisierung und Othering. Die historisch-assoziative Aufarbeitung zeigte dabei auch die Spuren, die diese „entfernten Kriege“ in der Region und ihrer kulturellen Produktion hinterlassen haben, etwa in Karl Jiraks Landschaft mit Flüchtlingen (ca. 1945–50).

Vor dem historischen Eingangsbereich, der für die Ausstellung erstmals wiedereröffnet wurde, zeigte die ukrainische Künstlerin Zhanna Kadyrova geometrische, aus weiß lackierten Metallteilen geformte Skulpturen (Harmless War, 2022), in deren glatten Oberflächen tatsächliche Einschusslöcher wie die Perforierungen eines Lucio Fontana anmuten. „Das Weiß der Moderne“ hieß auch das erste Kapitel der Ausstellung, das an die Verschränkung von Moderne und faschistischen Idealen bei der Gründung der Neuen Galerie Graz erinnerte, die ihren Namen 1941 nach dem „Anschluss“ Österreichs erhielt.

„Eine alternative Geschichte des steirischen herbst“ imaginierte seine Entstehung im Jahr 1939. Zum spekulativen Narrativ gehörten etwa die Figurengruppe An die Kunst (1939 / nach 1945) von Hans Mauracher – das Hakenkreuz unter dem emporgehaltenen Adler wurde nach dem Krieg durch eine Leier ersetzt – oder das mit nationalistischer Symbolik aufgeladene Gemälde Steirischer Herbst (1939) von Fritz Silberbauer. Dieses war auch ein Hauptmotiv in Assaf Grubers Film Never Come Back (2022), in dem ein nackter Akkordeonspieler im Museumsdepot verschiedene Werke kontempliert und schließlich eine bekannte Melodie spielt. Über der völkischen Herbstidylle, die Silberbauer im Jahr des deutschen Angriffs auf Polen malte, nachdem er selbst der NSDAP beigetreten war und sich für die Annexion Österreichs starkgemacht hatte, offenbarten Textzeilen aus Desireless’ Song „Voyage, voyage“ dessen erschreckend imperialistischen Ton.

Zu den Auftragswerken der Ausstellung gehörten auch Keti Chukhrovs poetischer Film Undead – ein surreales Familiendrama an Schauplätzen der vom Krieg mit Georgien verwüsteten (autonomen) Republik Abchasien – oder Willem de Rooijs Installation King Vulture. Für diese ließ der Künstler beim Yunxi Art Studio in China Kopien nach Fotos von Gemälden exotischer Vögel eines niederländischen Malers des 17. Jahrhunderts anfertigen und in der Gegenüberstellung der Gemälde eine Reflexion über Kolonialismus, Kulturtransfer und Aneignung entstehen.

In der assoziativen Verwebung diverser Narrative zwischen Fakt und Fiktion, damals und heute, brachten kuratorische Interventionen innerhalb der einzelnen Kapitel zuweilen skurrilen Fundstücke aus der Sammlung ans Licht, darunter (im Kapitel „Katastrophe“) eine Monumentalbüste Erzherzog Johanns, dem Begründer des Joanneums, der ein unbekannter Schütze eine Kugel in die Stirn geschossen hat. Eine eigens von den Kurator:innen in Auftrag gegebene Serie von Innenaufnahmen dokumentiert die Lebensräume von Leihgaben aus der Sammlung, die in Verwaltungs- und Besprechungsräumen im Landhaus Graz und an anderen Orten hängen – etwa Georg Eislers Gemälde Belfast (Straßenkampf) von 1971 als missverstandenes Sinnbild für Polizeiarbeit in der Grazer Polizeidirektion.

Die Ausstellung konzentrierte sich insbesondere auf die Geschichten einiger weniger bekannter Kunstwerke in der Sammlung und deren vergessene politische Kontexte – so etwa in der Gegenüberstellung der Porträts von Alois Krenn und Franz Yang-Močniks Auftragsporträts von steirischen Landtagspräsidenten („Politiker und ihre Subjekte“).

Das Programm umfasste weiterhin die Ausstellung Harun Farocki gegen den Krieg im Forum Stadtpark, eine thematische Mini-Retrospektive des verstorbenen Filmemachers, sowie ein Diskussionsprogramm mit dem Schwerpunkt Ukraine, Performances, Kabaretteinlagen, Theater-, Tanz- und Musikproduktionen. An den Eröffnungstagen brillierte Ming Wong mit A Rhapsody in Yellow in der Helmut List Halle, einer filmischen Lecture-Performance mit Livekonzert auf zwei Pianos zur chinesisch-amerikanischen Ping-Pong-Diplomatie, und Boris Charmatz mit seinem Tanzstück Noli me tangere als Dauerperformance in der Herz-Jesu Kirche – beides Auftragsarbeiten in Uraufführung.

In einer neuen Zusammenarbeit mit dem Literaturmagazin manuskripte steuerte der steirische herbst eine Sonderrubrik mit Kriegstagebüchern und -gedichten aus der Ukraine bei, ausgewählt von der Lyrikerin Galina Rymbu. Das traditionelle Festival-im-Festival musikprotokoll und das Literaturfestival Out of Joint fanden ebenfalls wieder statt.

Zu den Kollaborationen mit neuen und alten Partnerinstitutionen im umfangreichen Parallelprogramm gehörten unter anderem Hito Steyerls von der documenta fifteen abgezogene Installation Animal Spirits im Kunsthaus Graz und die erste Einzelausstellung von Maria Toumazou im Grazer Kunstverein.

Die Gruppenausstellung in der Neuen Galerie Graz war über die Festivaldauer hinaus bis Februar 2023 zu sehen und endete mit einem Symposium zum Thema „Kuratieren im Minenfeld“.

Programm

Performances im Rahmen der Ausstellung

Ein Krieg in der Ferne: Performances

Ausstellung

Festivals im Festival

Out of Joint

Festivaleröffnung

22.9., 17:00
Hauptplatz
Eröffnungsrede der Intendantin Ekaterina Degot

Raed Yassin, The Theatricality of a Postponed Death
Performance
Ab Hauptplatz ins Joanneumsviertel

18:30–21:00
Ein Krieg in der Ferne
Ausstellungseröffnung
Neue Galerie Graz

Augustas Serapinas, Margit, Maya, and Vanessa
Dauerperformance
Neue Galerie Graz

21:00
Ming Wong, Rhapsody in Yellow: A Lecture-Performance with Two Pianos
Performance
Helmut List Halle

Veranstaltungsorte

Akademie Graz

Annenstrasse 53,

BRUSEUM / Neue Galerie Graz

Bildungshaus Retzhof

Botanischer Garten

Die Grazer Märchenbahn

Dom im Berg

Ehemaliges Kaufhaus Angermeier / Kaiser-Franz-Josef-Kai 50

FAST Pichl—Schloss Pichl

Forum Stadtpark

FreiRaum Eisenerz / Volkshaus Graz

Gasthof Holzmann (Kirchenwirt) / Arbeiterheim Fohnsdorf / Gnaser Hof / Dachbodentheater Stainz / Innerberger Gewerkschaftshaus / Grabher-Haus

Graz Museum

Graz Museum Schlossberg

Grazer Kunstverein

HALLE FÜR KUNST Steiermark

HDA – Haus der Architektur

Hauptplatz

Haus lebt, Temporäres Kulturzentrum

Helmut List Halle

Herz-Jesu-Kirche

KULTUM. Zentrum für Gegenwart, Kunst und Religion in Graz

Kunsthaus Graz

Literaturhaus Graz

MUMUTH, Haus für Musik und Musiktheater der Kunstuniversität Graz (KUG)

Mühlgang am Rösselmühlpark

Neue Galerie Graz

Palais Attems (styriarte.STUDIO)

Radio Österreich 1

Theater im Palais, Kunstuniversität Graz (KUG)

Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (KUG), Palais Meran (Kleiner Saal)

das verMöBL XXL

designforum Steiermark

esc medien kunst labor

manuskripte

Publikationen

Ekaterina Degot, David Riff und Christoph Platz (Hg.), A War in the Distance (Berlin: Hatje Cantz, 2023)

→  Hier erhältlich

Ekaterina Degot und David Riff (Hg.), A War in the Distance (Berlin: Hatje Cantz, 2023)

→  Hier erhältlich

Retrospektive
Retrospektive
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