2021

steirischer herbst ’21
The Way Out

Intendanz
Ekaterina Degot

Festivaldaten
9.9.–10.10.2021

Kuratorisches Team
Intendantin und Chefkuratorin
Ekaterina Degot

Stellvertretende Intendantin
Henriette Gallus

Leiter der Kuratorischen Belange
Christoph Platz

Senior Curator
David Riff

Kurator:innen
Mirela Baciak
Dominik Müller

Beim Museums- oder Theaterbesuch verlassen wir den Alltag und betreten die Sphäre der hohen Kunst. Die Erwartung von etwas Neuem ist aufregend, das Unbekannte schillernd. Jedoch gehören die blitzblanken Räume des Museums und die gemütlichen Sessel im Theatersaal auch einer Sphäre des Vorhersehbaren an; sie geben uns jenes Gefühl von Sicherheit, das uns in unserem eigenen Leben fehlt. Weiße Wände verraten uns, dass der Dreck, den wir in einer Galerie vorfinden könnten, kein wirklicher Dreck ist, sondern Kunst. Und sollte uns die Geschichte auf der Bühne in eine zu große Aufregung versetzen, können wir uns stets darauf besinnen, dass diese Menschen schauspielern und Desdemona nicht wirklich stirbt.
Das ist ein zentraler Grund, warum die historische europäische Avantgarde diese Sicherheit immer hinter sich lassen und die Kunst mit dem Leben vereinen wollte – mit dem Ziel, eine vollkommene Existenz zu erreichen, in der die Kunst keine kontrollierte Alternative zum Leben mehr darstellt, sondern ein integraler Bestandteil davon ist. Das Leben wird von Kunst durchzogen und immer ästhetischer, aber die Kunst geht Risiken ein, die nur im echten Leben existieren, wo nichts garantiert ist. Und jetzt, wo die Frage der Sicherheit auf der ganzen Welt nicht nur zu einer politischen, sondern zu einer hygienischen Obsession wird, wird es Zeit, uns selbst daran zu erinnern, dass es gerade dieser Mangel an Garantien ist, der das Leben auszeichnet.
Als ein Festival, das vom Erbe der historischen Avantgarde zehrt, hat sich der steirische herbst oft in den Außenraum, das Reale, das Alltägliche und das Populäre gewagt. In dieser Tradition laden wir Sie auch heuer ein, bei zahlreichen Projekten Kunst außerhalb ihres starren Korsetts zu erleben.
—Programmheft

Nachdem der steirische herbst im Vorjahr durch die Pandemie gezwungen war, den physischen Raum zu verlassen und nach neuen Wegen zu suchen, ein Publikum zu erreichen, kehrte er auch in diesem Jahr nicht in den schützenden Raum der Institutionen zurück. Fand das Festival 2020 mit dem multimedialen Streamingdienst Paranoia TV weitgehend virtuell statt – wobei auch so ungewöhnliche Distributionskanäle wie ein Essenslieferservice genutzt wurden –, verlegte sich das The Way Out benannte Programm 2021 ganz auf die Straßen und Plätze von Graz und der Steiermark. Es fand sogar einen Weg hinein in unzählige Grazer Haushalte: Unter dem Titel An alle, die ich lieben werde verschickte der Philosoph Paul B. Preciado 90.000 Liebesbriefe per Post an Besucher:innen und Nicht-Besucher:innen des steirischen herbst.

Durch die Arbeit mit Laiendarsteller:innen und die Beteiligung der Öffentlichkeit sollte eine möglichst große Breitenwirksamkeit erreicht werden. Sie wolle „raus, raus aus dem Lockdown, raus aus der Pandemie, und raus aus den Maßnahmen gegen sie, raus aus der Krankheit, und raus aus der Hygiene, raus aus der Gefahr, und raus aus der Sicherheit“, begann Ekaterina Degot ihre Eröffnungsrede auf dem Europaplatz, flankiert von einer bunt blinkenden Jahrmarktskulisse mit revolutionären Parolen von Marinella Senatore und Flo Kasearus Performer:innen in Fantasieuniformen und überdimensionierten Hüten. Kasearus Disorder Patrol patrouillierte anschließend beritten im Volksgarten – eine Antwort auf die umstrittene Grazer Ordnungswache.

Gleichzeitig erinnerte die Intendantin in ihrer Rede daran, dass, wenige Wochen nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, die Notwendigkeit „rauszukommen“ für viele Menschen in anderen Kontexten eine noch ganz andere Dringlichkeit hat. The Way Out bedeutete für sie allerdings auch einen Ausweg aus rechter wie linker Kleingeistigkeit, vor allem aber aus dem elitären institutionellen Kunstbetrieb hinaus zu einer breiteren Öffentlichkeit. „Die Beschäftigung mit dem Lokalen – seinen Kontexten, seinen Geschichten, seinen Menschen – steht im Zusammenhang mit der Dringlichkeit, unnötige Reisen zu reduzieren, aber nicht nur das. Es schwingt die seltsam schmerzhafte und manchmal unbeholfene Wiederentdeckung der Außenwelt nach einem Jahr des eingeschlossenen Lebens und der Online-Kultur mit“, so das Kuratorium in einer Pressemitteilung.

Thomas Hirschhorn hatte einen längeren Zeitraum in Graz verbracht, um auf dem Esperantoplatz ein Simone Weil Memorial in der für ihn typischen DIY-Ästhetik zu errichten. Neben Pappen mit handschriftlichen Zitaten aus dem Werk der Philosophin und einer öffentlichen Bibliothek gaben Plüschtiere und mit Herzchen verzierte Liebeserklärungen dem Werk eine kitschige Emotionalität, wie man sie etwa durch die ad hoc entstandenen Memorials nach dem Tod von Prinzessin Diana kennt. Die um eine öffentliche Skulptur herumgebaute Arbeit wurde von Menschen aus der Nachbarschaft gepflegt und war neben Senatores begehbarer Installation und dem von Peter Schloss mit Grupa Ee gestalteten Presse- und Besucher:innenzentrum das einzige Kunstwerk des steirischen herbst ’21, das über die gesamte Festivaldauer fest installiert war. Neben diesen Werken hingen von zehn Künstler:innen gestaltete Plakate an verschiedenen Stellen im öffentlichen Raum.

In zwei Parks, dem Augarten und dem Stadtpark, konnten Passant:innen während der ersten vier Festivaltage zwischen Sonnenaufgang und -untergang in einer „konstruierten Situation“ von Tino Sehgals „Interpret:innen“ überrascht werden, die sich unmittelbar aus einer vorher eingenommenen Pose oder ihrem tanzenden „Schwarm“ lösten und auf einzelne Personen zugingen, um diesen eine mehr oder weniger intime Geschichte aus ihrem Leben zu erzählen. Dabei ging es weniger um Dialog als um die direkte Konfrontation mit einer explizit subjektiven Erfahrung nach Jahren der sozialen Isolation.

Den expliziten Dialog mit der Bevölkerung suchte Lars Cuzner, der bereits beim steirischen herbst ’18 mit seiner Inteligentspartiet (Intelligenzpartei) die populistische Meinungsmache rechter Parteien in Europa parodiert hatte. Für einen von fünf mehrteiligen Lageberichten – einem neuen, an Paranoia TV angelehnten Fernsehformat des Festivals – warb er von Kameras begleitet auf der Straße für „ein Selbsthilfebuch, das nicht hilft“. Auch die Fortsetzung von Hiwa Ks frühem Projekt Cooking with Mama basierte auf aktiver Partizipation des lokalen Publikums. Während der Künstler 2006 selbst mit seiner im Irak verbliebenen Mutter über Skype gekocht hatte, lud er nun Grazer:innen mit unterschiedlichen migrantischen Identitäten dazu ein, auf einem Imbissfahrrad unter freiem Himmel mit ihren per Video zugeschalteten Verwandten zu kochen – dies wohl auch als Antwort auf die fremdenfeindliche Hetze auf Wahlplakaten der FPÖ.

Zu den herausragenden Neuproduktionen zählten unter anderem die im Innenhof des Steiermärkischen Landesarchivs aufgeführte Opern-Performance des Künstlers Dejan Kaludjerović in Zusammenarbeit mit Marija Balubdžić, Bojan Djordjev und Tanja Šljivar, auf Basis von Interviews mit Kindern in Graz und an anderen Orten zu Themen wie Krieg, Rassismus oder Pandemie, sowie die Bühnen-Performances Ich spiele, also bin ich! Ein digitaler Bauernkrieg von Hito Steyerl und Mark Waschke und Chaim Hermann Steinschneider von Yael Bartana im Orpheum. Steinschneider war ein österreichischer Jude, der mit den Nazis sympathisierte und unter einem Pseudonym in Berlin als Hellseher berühmt wurde, schließlich aber ermordet wurde, vermutlich, weil er den Reichstagsbrand von 1933 vorhergesagt hatte. Bartana ließ ihn in einer Séance ins Jahr 2021 zurückkehren, um mithilfe des Publikums im Saal und demjenigen, das per Livestream zugeschaltet war, in die Zukunft zu sehen.

Außerhalb von Graz führte das Theaterkollektiv Die Rabtaldirndln im 45 Autominuten entfernten Hainersdorf einen zeitgenössischen Schwank auf, und der Theaterregisseur Felix Hafner besuchte mehrere Orte in der Steiermark, wo er mit einheimischen Laiendarstellern eine Inszenierung der Protestkultur entwickelte.

Programm

Situationen

Installationen und Interventionen

Performances

Lageberichte

Plakate

Vorträge

Konferenz / Podcast

Festivals im Festival

Parallelprogramm

Festivaleröffnung

9.9., 17:00
Europaplatz
Eröffnungsrede der Intendantin Ekaterina Degot

Dejan Kaludjerović in Zusammenarbeit mit Marija Balubdžić, Bojan Djordjev und Tanja Šljivar, Expressions and Other Curiosities
Konzertanter Teaser zur Opern-Performance Conversations: I don’t know that word … yet

Ab 18:00
Flo Kasearu, Disorder Patrol
Performance
Volksgarten

20:30
Uriel Barthélémi mit Sophie Bernado und Salomon Baneck-Asaro, Navigating the Ruins of the Old World
Performance
Hauptplatz

Veranstaltungsorte

AK-Bibliothek & Infothek / Citypark, EG

Annenstrasse 53,

Augartenbucht & Stadtpark

BRUSEUM / Neue Galerie Graz

Dom im Berg

Esperantoplatz

Europaplatz

Forum Stadtpark

Forum Stadtpark & Online

Grazer Kunstverein

HALLE FÜR KUNST Steiermark

HDA – Haus der Architektur

Hauptplatz & Messe Graz

Helmut List Halle

Hoftheater Hainersdorf

KULTUM. Zentrum für Gegenwart, Kunst und Religion in Graz

Kristallwerk

Kunsthalle Graz

Kunsthaus

Literaturhaus Graz

MUMUTH

MUMUTH (Foyer)

Mariahilferplatz

Murgasse 6

Online

Orpheum

Orpheum & online

Palais Attems

Palais Attems & Joanneumsviertel

Schaumbad – Freies Atelierhaus Graz

Steiermärkisches Landesarchiv

Theater am Lend

Theater im Palais, Kunstuniversität Graz (KUG)

Volksgarten und weitere Orte in der Innenstadt

accomplices – Verein zur Erkundung multimedialer Ausdrucksformen

esc medien kunst labor

Ö1

Publikationen

Ekaterina Degot und David Riff (Hg.), The Way Out (Berlin: Hatje Cantz, 2022)

→  Hier erhältlich

Ekaterina Degot und David Riff (Hg.), The Way Out of …. (Berlin: Hatje Cantz, 2022)

→  Hier erhältlich

Retrospektive
Retrospektive
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