1988

Hans Haacke, Und Ihr habt doch gesiegt (1988), rekonstruierte Skulptur, nach einem Brandanschlag, bei Bezugspunkte 38/88, Am Eisernen Tor, Graz, 1988, Foto: Angelika Gradwohl; © Bildrecht, Wien 2021

Vito Acconci, Face of the Earth #2 (1988), bei International Landscape, Forum Stadtpark, Graz, 1988, Foto: Archiv steirischer herbst; © Bildrecht, Wien 2021

Movers, Babyzarr (1988), Tanztheater, bei Ohne Worte, Annenhofkino, Graz, 1988, Foto: Angelika Gradwohl

Ulrike Migdal, Grüße aus Theresienstadt. Eine Parabel (1988), Theaterstück, Schauspielhaus Graz, 1988, Foto: Peter Manninger

Braco Dimitrijević, The Casual Passer-by I Met, bei Bezugspunkte 38/88, Hauptplatz Graz, 1988, Foto: Angelika Gradwohl
steirischer herbst ’88
Schuld und Unschuld der Kunst
Intendanz
Peter Vujica
Festivaldaten
23.9.–8.11.1988

„Schuldig alle, die von der Kunst Nachsicht und Entsühnung fordern, für das, was sie selbst einst verbrachten. Schuldig alle Kunst, die solchen Wünschen willfahrt. Schuldig aber auch alle Kunst, die im Zorn über das Gestern erblindet für das Unheil von heute. Und Schänder der Kunst alle, im Westen wie im Osten, im Norden wie im Süden, die solche Blindheit für sich nutzen. Groß und schuldlos alle Kunst, die zeichnet und sagt, was morgen sein wird oder sein könnte. Und schuldig alle, die solche Kunst ächten. Denn meist verrät sie nur die Schrecken, die zu vollbringen ihre eifernden Gegner eben sich anschicken.
Außerdem: Der Tod ist ein Meister – nicht nur – aus Deutschland.“
—Peter Vujica
Zum 50. Jahrestag des Anschlusses widmete sich der steirische herbst dem Thema Schuld und Unschuld der Kunst. Zwei Jahre zuvor hatte die Affäre um die NS-Vergangenheit des UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim eine längst überfällige Aufarbeitung der eigenen NS-Geschichte in Österreich ausgelöst, im Zuge derer auch das Festival Stellung beziehen musste. Schon während der Eröffnungstage stand das Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus an zentraler Stelle: In der Kasemattenbühne am Schloßberg wurde das Dachaulied von Herbert Zipper nach einem Text des im KZ Buchenwald verstorbenen Jura Soyfer uraufgeführt.
Das Eröffnungsstück Grüße aus Theresienstadt von Ulrike Migdal im Schauspielhaus handelte von Häftlingen im KZ Theresienstadt, die unter Zwang der Lagerleitung Gedichte, Kabaretttexte, Satiren und Lieder vortragen mussten, um Besucher aus dem In- und Ausland über die katastrophalen Zustände im Lager hinwegzutäuschen. Das Filmsymposion war dem umstrittenen Regisseur von Hitler, ein Film aus Deutschland (1977), Hans-Jürgen Syberberg, gewidmet, und im Forum Stadtpark kuratierte die spätere herbst-Intendantin Christine Frisinghelli die Fotografie-Ausstellung Die Rache der Erinnerung mit Arbeiten von Christian Boltanski, Hannah Collings, Seiichi Furuya und anderen.
Das Hauptaugenmerk des Kernprogramms bildete jedoch die Ausstellung Bezugspunkte 38/88, kuratiert von Kunsthistoriker Werner Fenz, für die der steirische herbst sich erstmalig ganz in den Grazer Stadtraum hineinbewegte. Sechzehn internationale Künstler:innen waren eingeladen, sich mit vierzehn Orten auseinanderzusetzen, in die sich der Nationalsozialismus eingeschrieben hatte. Dazu zählten Hauptbahnhof und Hauptplatz, Am Eisernen Tor, Rosarium und Universität. Es ging hier ganz klar nicht um eine „Möblierung“ des öffentlichen Raums mit Skulpturen, sondern um eine kritische Untersuchung und Wahrnehmung dieser Orte und Räume mit den Mitteln der Kunst.
Bill Fontana entwickelte etwa eine Klangskulptur an mehreren „Bezugspunkten“, die der Naziherrschaft über die Dauer des Festivals „die elf schönsten Sounds der Welt“1 entgegensetzen sollte. Die Grazer bewerteten die Geräusche jedoch anders: Bereits ab dem ersten Tag ging ein Sturm der Entrüstung bei Polizei und Zeitungsredaktionen ein, um der „Belästigung auf Kosten der Steuerzahler ein Ende zu setzen“.2 Obwohl Peter Vujica einen umstrittenen Kompromiss einging, um Lautstärke und Dauer des Stücks zu reduzieren, beendeten empörte Bürger die Übertragung, indem sie die Lautsprecherkabel durchschnitten. Auch die Installation aus fleischfarbenen Bodenplatten von Werner Hofmeister vor dem Sitz der ehemaligen Reichskulturkammer und Peter Barens menschliche Puppe mit dem Titel Echo of Histyria am Uhrturm waren mehrfach Opfer von Vandalismus.
Die stärksten Reaktionen löste jedoch Hans Haackes Beitrag aus. Auf dem Platz Am Eisernen Tor hatte Haacke rund um die historische Mariensäule die von den Nationalsozialisten 1938 dort errichtete Siegessäule rekonstruiert. Er betitelte die Säule Und Ihr habt doch gesiegt und versah sie mit Nazi-Insignien wie Hakenkreuz und Reichsadler sowie der Inschrift „Die Besiegten in der Steiermark – 300 getötete Zigeuner, 2.500 getötete Juden, 8.000 getötete oder in der Haft verstorbene, politische Gefangene, 9.000 im Krieg getötete Zivilisten. 12.000 Vermisste, 27.900 getötete Soldaten“.
Die Proteste der Grazer Bevölkerung begannen schon während des Aufbaus und hielten – befeuert von der lokalen Presse – an. Auf Druck der Staatspolizei musste am Tag der Pressekonferenz das Hakenkreuz unter dem Reichsadler entfernt werden – eine Zensur, der sich der Künstler beugte, um nicht gegen das Verbotsgesetz von 1947 zu verstoßen. Fünf Tage vor Ende des Festivals wurde das Kunstwerk schließlich Opfer eines Brandanschlags. Dass dabei auch die historische Mariensäule Schaden nahm, wurde in der Presse – allen voran in der Kleinen Zeitung – als der eigentliche Skandal behandelt.3
Die höchst aggressive Stimmungsmache („Nestbeschmutzer“, „Dreck“ etc.) gegen eine Anzahl von Kunstwerken – insbesondere die im öffentlichen Raum – sprach deutlich gegen die These eines geistig verwirrten Einzeltäters, der sich schließlich auch Peter Vujica anschloss. Dass die teilweise Zerstörung weiterer Kunstwerke – etwa eines audiovisuellen Werks der Gruppe IRWIN an der Grazer Universität – von der Presse nicht kommentiert und stillere Werke der Bezugspunkte (Braco Dimitrijević, Jochen Gerz, Norbert Radermacher) nicht beachtet wurden, fügt sich in den allgemeinen „Kanon“ der Negation.
- 1
- Christine Resch, Kunst als Skandal. Der steirische herbst und die öffentliche Erregung (Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1994), S. 49.
- 2
- Kunstpresse 5 (Dezember 1988), zitiert in Resch, Kunst als Skandal, S. 49.
- 3
- Ebd., S. 53.
Programm
Schuld und Unschuld der Kunst
Theater
Ballett
Ohne Worte
Symposien
With the Eyes shut / Bilder im Kopf
F. / K. / K.-Film / Kunst / Kino 1988 I
F. / K. / K.-Film / Kunst / Kino 1988 II
F. / K. / K.-Film / Kunst / Kino 1988 III
Bildende Kunst
Ölbilder und Arbeiten auf Papier
Kodak Color Control Patches Siebdrucke
Herbst in den Bezirken
Jugendmusikfest Deutschlandsberg Orchesterkonzert 26.10.1988
Mürztaler Werkstatt Konzert 31.10.1988
Mürztaler Werkstatt Konzert 1.11.1988
Mürztaler Werkstatt Konzert 3.11.1988
Mürztaler Werkstatt Konzert 4.11.1988
Mürztaler Werkstatt Konzert 5.11.1988
Finale des Internationalen Dirigentenwettbewerbs Musik des 20. Jahrhunderts
Konzert zur Austellung Wotruba
Leopold Ungar liest Karl Kraus
Herbst in München
Festivaleröffnung
23.09., 16:00
Eröffnung/Musik
Uraufführung Herbert Zipper (USA): Dachaulied - Arbeit macht frei
Friedrich Cerha (A): Eine Art Chansons. (Auswahl)
Uraufführung Otto M. Zykan (A): Engels Engel
Veranstaltungsorte
Annenhofkino
Artelier
Aula des BORG, Kindberg
Cafe Wien, Mürzzuschlag
Eisenwerk Breitenfeld, Mitterdorf
Forum Stadtpark
Galerie Bleich-Rossi
Galerie CC
Galerie Dürr (Stuck-Villa), München
Galerie Eugen Lendl
Galerie Freiberger, Mürzzuschlag
Galerie Griss
Galerie K
Gasthof Edlacherhof, Mürzzuschlag
Gasthof Temmel, Kindberg
Haus der Jugend
Hotel Kohlbacher, Langenwang
Hotel Post, Kindberg
Kammermusiksaal (Grazer Kongress)
Kirche St. Jakob, Krieglach
Koralmhalle
Kulturhaus Graz
Künstlerwerkstatt Lothringerstraße 13, München
Neue Galerie Graz
Neue Galerie Graz, Künstlerhaus
Oper Graz
Ostbahnhof
Palais Attems
Palais Attems, Annenhofkino
Palais Meran
Refektorium des Münsters
Saal Steiermark (Grazer Congress)
Saal der Handelskammer Mürzzuschlag
Schauspielhaus Graz
Schloss Pichl, Mitterdorf
Schloss Trautenfels
Schloßberg, Universität Graz, Grazer Stadtgebiet
Schloßberg-Kasematten
Schloßberg-Kasematten, Galerie H. + W. Lang
Schubertkino
Stefaniensaal (Grazer Kongress)
Universität Graz
stadtmuseumgraz
Publikationen

Programmbuch des steirischen herbst 1988: steirischer herbst Veranstaltungsges.m.b.H., steirischer herbst ’88 (Schuld und Unschuld der Kunst) (Graz: 1988)

Paul Kaufmann, 20 Jahre steirischer herbst. Eine Dokumentation (Wien – Darmstadt: Paul Zsolnay Verlag, 1988)
→ Hier erhältlich

steirischer herbst Veranstaltungsgesellschaft m.bH., Bezugspunkte 38/88 (Graz: steirischer herbst Veranstaltungsgesellschaft m.bH., 1988)

steirischer herbst Veranstaltungsgesellschaft m.bH., Bezugspunkte 38/88 (Graz: steirischer herbst Veranstaltungsgesellschaft m.bH., 1988)

Peter Pakesch, Grazer Kunstverein, steirischer herbst ’88, Graz 1988 (Graz: 1988)

Matthias Buck, International Landscape (München: Christoph Dürr Verlag, 1988)

Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, 1988 Mit Blick voraus. Junge Kunst aus Österreich (Graz: Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, 1988)

steirischer herbst, Besucher (Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz, 1988)
Retrospektive
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