1988

steirischer herbst ’88
Schuld und Unschuld der Kunst

Intendanz
Peter Vujica

Festivaldaten
23.9.–8.11.1988

„Schuldig alle, die von der Kunst Nachsicht und Entsühnung fordern, für das, was sie selbst einst verbrachten. Schuldig alle Kunst, die solchen Wünschen willfahrt. Schuldig aber auch alle Kunst, die im Zorn über das Gestern erblindet für das Unheil von heute. Und Schänder der Kunst alle, im Westen wie im Osten, im Norden wie im Süden, die solche Blindheit für sich nutzen. Groß und schuldlos alle Kunst, die zeichnet und sagt, was morgen sein wird oder sein könnte. Und schuldig alle, die solche Kunst ächten. Denn meist verrät sie nur die Schrecken, die zu vollbringen ihre eifernden Gegner eben sich anschicken.
Außerdem: Der Tod ist ein Meister – nicht nur – aus Deutschland.“
—Peter Vujica

Zum 50. Jahrestag des Anschlusses widmete sich der steirische herbst dem Thema Schuld und Unschuld der Kunst. Zwei Jahre zuvor hatte die Affäre um die NS-Vergangenheit des UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim eine längst überfällige Aufarbeitung der eigenen NS-Geschichte in Österreich ausgelöst, im Zuge derer auch das Festival Stellung beziehen musste. Schon während der Eröffnungstage stand das Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus an zentraler Stelle: In der Kasemattenbühne am Schloßberg wurde das Dachaulied von Herbert Zipper nach einem Text des im KZ Buchenwald verstorbenen Jura Soyfer uraufgeführt.

Das Eröffnungsstück Grüße aus Theresienstadt von Ulrike Migdal im Schauspielhaus handelte von Häftlingen im KZ Theresienstadt, die unter Zwang der Lagerleitung Gedichte, Kabaretttexte, Satiren und Lieder vortragen mussten, um Besucher aus dem In- und Ausland über die katastrophalen Zustände im Lager hinwegzutäuschen. Das Filmsymposion war dem umstrittenen Regisseur von Hitler, ein Film aus Deutschland (1977), Hans-Jürgen Syberberg, gewidmet, und im Forum Stadtpark kuratierte die spätere herbst-Intendantin Christine Frisinghelli die Fotografie-Ausstellung Die Rache der Erinnerung mit Arbeiten von Christian Boltanski, Hannah Collings, Seiichi Furuya und anderen.

Das Hauptaugenmerk des Kernprogramms bildete jedoch die Ausstellung Bezugspunkte 38/88, kuratiert von Kunsthistoriker Werner Fenz, für die der steirische herbst sich erstmalig ganz in den Grazer Stadtraum hineinbewegte. Sechzehn internationale Künstler:innen waren eingeladen, sich mit vierzehn Orten auseinanderzusetzen, in die sich der Nationalsozialismus eingeschrieben hatte. Dazu zählten Hauptbahnhof und Hauptplatz, Am Eisernen Tor, Rosarium und Universität. Es ging hier ganz klar nicht um eine „Möblierung“ des öffentlichen Raums mit Skulpturen, sondern um eine kritische Untersuchung und Wahrnehmung dieser Orte und Räume mit den Mitteln der Kunst.

Bill Fontana entwickelte etwa eine Klangskulptur an mehreren „Bezugspunkten“, die der Naziherrschaft über die Dauer des Festivals „die elf schönsten Sounds der Welt“1 entgegensetzen sollte. Die Grazer bewerteten die Geräusche jedoch anders: Bereits ab dem ersten Tag ging ein Sturm der Entrüstung bei Polizei und Zeitungsredaktionen ein, um der „Belästigung auf Kosten der Steuerzahler ein Ende zu setzen“.2 Obwohl Peter Vujica einen umstrittenen Kompromiss einging, um Lautstärke und Dauer des Stücks zu reduzieren, beendeten empörte Bürger die Übertragung, indem sie die Lautsprecherkabel durchschnitten. Auch die Installation aus fleischfarbenen Bodenplatten von Werner Hofmeister vor dem Sitz der ehemaligen Reichskulturkammer und Peter Barens menschliche Puppe mit dem Titel Echo of Histyria am Uhrturm waren mehrfach Opfer von Vandalismus.

Die stärksten Reaktionen löste jedoch Hans Haackes Beitrag aus. Auf dem Platz Am Eisernen Tor hatte Haacke rund um die historische Mariensäule die von den Nationalsozialisten 1938 dort errichtete Siegessäule rekonstruiert. Er betitelte die Säule Und Ihr habt doch gesiegt und versah sie mit Nazi-Insignien wie Hakenkreuz und Reichsadler sowie der Inschrift „Die Besiegten in der Steiermark – 300 getötete Zigeuner, 2.500 getötete Juden, 8.000 getötete oder in der Haft verstorbene, politische Gefangene, 9.000 im Krieg getötete Zivilisten. 12.000 Vermisste, 27.900 getötete Soldaten“.

Die Proteste der Grazer Bevölkerung begannen schon während des Aufbaus und hielten – befeuert von der lokalen Presse – an. Auf Druck der Staatspolizei musste am Tag der Pressekonferenz das Hakenkreuz unter dem Reichsadler entfernt werden – eine Zensur, der sich der Künstler beugte, um nicht gegen das Verbotsgesetz von 1947 zu verstoßen. Fünf Tage vor Ende des Festivals wurde das Kunstwerk schließlich Opfer eines Brandanschlags. Dass dabei auch die historische Mariensäule Schaden nahm, wurde in der Presse – allen voran in der Kleinen Zeitung – als der eigentliche Skandal behandelt.3

Die höchst aggressive Stimmungsmache („Nestbeschmutzer“, „Dreck“ etc.) gegen eine Anzahl von Kunstwerken – insbesondere die im öffentlichen Raum – sprach deutlich gegen die These eines geistig verwirrten Einzeltäters, der sich schließlich auch Peter Vujica anschloss. Dass die teilweise Zerstörung weiterer Kunstwerke – etwa eines audiovisuellen Werks der Gruppe IRWIN an der Grazer Universität – von der Presse nicht kommentiert und stillere Werke der Bezugspunkte (Braco Dimitrijević, Jochen Gerz, Norbert Radermacher) nicht beachtet wurden, fügt sich in den allgemeinen „Kanon“ der Negation.

1
Christine Resch, Kunst als Skandal. Der steirische herbst und die öffentliche Erregung (Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1994), S. 49.
2
Kunstpresse 5 (Dezember 1988), zitiert in Resch, Kunst als Skandal, S. 49.
3
Ebd., S. 53.

Programm

Schuld und Unschuld der Kunst

Theater

Ballett

Ohne Worte

Symposien

Bildende Kunst

Herbst in den Bezirken

Herbst in München

Festivaleröffnung

23.09., 16:00
Eröffnung/Musik
Uraufführung Herbert Zipper (USA): Dachaulied - Arbeit macht frei
Friedrich Cerha (A): Eine Art Chansons. (Auswahl)
Uraufführung Otto M. Zykan (A): Engels Engel

Veranstaltungsorte

Annenhofkino

Artelier

Aula des BORG, Kindberg

Cafe Wien, Mürzzuschlag

Eisenwerk Breitenfeld, Mitterdorf

Forum Stadtpark

Galerie Bleich-Rossi

Galerie CC

Galerie Dürr (Stuck-Villa), München

Galerie Eugen Lendl

Galerie Freiberger, Mürzzuschlag

Galerie Griss

Galerie K

Gasthof Edlacherhof, Mürzzuschlag

Gasthof Temmel, Kindberg

Haus der Jugend

Hotel Kohlbacher, Langenwang

Hotel Post, Kindberg

Kammermusiksaal (Grazer Kongress)

Kirche St. Jakob, Krieglach

Koralmhalle

Kulturhaus Graz

Künstlerwerkstatt Lothringerstraße 13, München

Neue Galerie Graz

Neue Galerie Graz, Künstlerhaus

Oper Graz

Ostbahnhof

Palais Attems

Palais Attems, Annenhofkino

Palais Meran

Refektorium des Münsters

Saal Steiermark (Grazer Congress)

Saal der Handelskammer Mürzzuschlag

Schauspielhaus Graz

Schloss Pichl, Mitterdorf

Schloss Trautenfels

Schloßberg, Universität Graz, Grazer Stadtgebiet

Schloßberg-Kasematten

Schloßberg-Kasematten, Galerie H. + W. Lang

Schubertkino

Stefaniensaal (Grazer Kongress)

Universität Graz

stadtmuseumgraz

Publikationen

Programmbuch des steirischen herbst 1988: steirischer herbst Veranstaltungsges.m.b.H., steirischer herbst ’88 (Schuld und Unschuld der Kunst) (Graz:  1988)

Paul Kaufmann, 20 Jahre steirischer herbst. Eine Dokumentation (Wien – Darmstadt: Paul Zsolnay Verlag, 1988)

→  Hier erhältlich

steirischer herbst Veranstaltungsgesellschaft m.bH., Bezugspunkte 38/88 (Graz: steirischer herbst Veranstaltungsgesellschaft m.bH., 1988)

steirischer herbst Veranstaltungsgesellschaft m.bH., Bezugspunkte 38/88 (Graz: steirischer herbst Veranstaltungsgesellschaft m.bH., 1988)

Peter Pakesch, Grazer Kunstverein, steirischer herbst ’88, Graz 1988 (Graz: 1988)

Matthias Buck, International Landscape (München: Christoph Dürr Verlag, 1988)

Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, 1988 Mit Blick voraus. Junge Kunst aus Österreich (Graz: Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, 1988)

steirischer herbst, Besucher (Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz, 1988)

Retrospektive
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