Peter Vujica

1983–1989

1983 änderte sich die Struktur des steirischen herbst entscheidend. Mit dem Musikjournalisten Peter Vujica, Mitbegründer des musikprotokoll und seit 1974 Mitglied im Programm-Direktorium, bekam das Festival erstmals einen Intendanten, der für das Gesamtprogramm verantwortlich war. Bis 1986 gab es auch noch ein Direktorium, bestehend aus Emil Breisach (Intendant ORF-Landesstudio Steiermark), Carl Nemeth (Intendant Vereinigte Bühnen Graz), Alfred Kolleritsch (Forum Stadtpark) und Wilfried Skreiner (Neue Galerie Graz).

Dem neuen Intendanten gelang es, das Budget hauptsächlich durch private Sponsoren um 25 bis 30 Prozent zu erhöhen – der herbst ’83 hatte somit 2,5 Millionen Schilling (ca. 400.000 Euro) mehr zur Verfügung als seine Vorgänger. Sein Anliegen war es, das Programm zu „öffnen“: ein „breiteres Publikum“ anzusprechen, aber auch gegenüber der heimischen Szene offen zu sein.1

Zwei neue Formate fallen im Programmheft von 1983 ins Auge: zuerst einmal der herbstpark im Stadtpark, wo 1983 das „Eröffnungsspektakel“ HANSI (Konzept: Emil Breisach) mit der Jugendblaskapelle Mooskirchen, der Volksmusik- und Volkstanzgruppe Josef Strunz, Westwind, Harry’s Tanzkapelle und weiteren Darbietungen stattfand, gefolgt von der offiziellen Eröffnung mit einer Videoinstallation von Richard Kriesche und einem Konzert von Diamanda Galás unter dem Titel Entfesselte Frauen mit Küchenmessern.

Dem herbstpark mit seinem bunt gemischten, populären Programm (unter anderem mit Tangokurs, Musikvideos, Feuerschluckern und der allabendlichen Hansi’s Bar) stand das studio avantgarde des ORF-Landesstudio Steiermark gegenüber, wo wie beim populären „Wunschkonzert“ auf Bestellung des Publikums zeitgenössische Literatur gelesen wurde. Beinahe schon subversiv ließ Vujica U- und E-Kultur gegeneinander antreten und beschwor, insbesondere mit dem herbstpark und dem Eröffnungsspektakel, so etwas wie einen felliniesken Lunapark voller Überraschungen herauf – eine Einladung an die gesamte Grazer Öffentlichkeit.

Das open house mit seinem breit gefächerten Jugend- und Bildungsprogramm verschwand jedoch unter Vujicas Intendanz. Auch herbstpark und studio avantgarde wurden in den Folgejahren nicht weitergeführt oder durch andere Formate oder Sonderprojekte abgelöst: falso loco (1984), smart art und open spoons (1985), Keine Gnade (1986), Klar und Wahr (1987) oder Ohne Worte (1988). Es schien Peter Vujica mehr um stetigen Wandel und feuerwerksartige Überraschungseffekte zu gehen als um Kontinuität und konzeptuelle Stringenz.

Mit Mythos, Kunst und Leben stellte Vujica seinen ersten herbst wieder unter ein Leitmotiv, was sich insbesondere in der bildenden Kunst niederschlug, etwa im groß angelegten Projekt Mythen der Zukunft (Konzept und Organisation: Horst Gerhard Haberl und Grita Insam) an verschiedenen Orten in Graz, das im Programmheft nicht unter Ausstellungen, sondern als eigener Programmpunkt erschien.

Als Mitinitiator des musikprotokoll, das er von 1968 bis 1973 leitete, erweiterte Vujica das musikalische Programm über diese Reihe hinaus in die Avantgarde und den konzeptuellen Pop der Gegenwart hinein, mit oft radikalen Sound- und Performancekünstler:innen. Während sich das musikprotokoll weiterhin vorwiegend der inzwischen etablierten Nachkriegsmoderne und Neuen Musik mit Aufführungen von Stücken von Messiaen, Krenek, Ligeti oder Cerha widmete, traten in den meist von Vujica selbst initiierten Konzerten und Sonderprojekten Post-Punk und Industrial-Gruppen wie The Fall, Laibach oder Fad Gadget auf. Die Musik verließ mit Vujicas Intendanz die elitären Hallen des „ernsten“ europäischen Kulturbetriebs. Gerade in der Popmusik der Achtzigerjahre fand eine Politisierung statt, es wurde nachgedacht über die Rolle von Musik, Performance, Publikum, Gesellschaft und Geschlecht, über die Zusammenhänge von Kunst, Politik und Individuum.

1988 bezog der steirische herbst unter dem Leitthema Schuld und Unschuld in der Kunst, das Theater, bildende Kunst, Film und Symposien umfasste, zum 50. Jahrestag des Anschlusses Stellung. Mit der inzwischen legendären – insbesondere durch die Skandale, die sie auslöste – Ausstellung Bezugspunkte 38/88 (Konzept: Werner Fenz) wurden ortsspezifische Projekte an verschiedenen geschichtsträchtigen Orten in Graz realisiert, die mehr oder weniger eindeutig an die Grazer NS-Vergangenheit erinnerten. Dies sorgte teilweise für massiven Widerstand in der Bevölkerung bis hin zur Zensur und zum mutwilligen Vandalismus an einigen Kunstwerken. Zum berühmtesten Beispiel wurde die Zerstörung von Hans Haackes Reproduktion der „Siegessäule“ und die Beschädigung der darunter befindlichen Mariensäule.

Seit dieser Ausgabe ist ein übergreifendes Leitmotiv Standard für das Festival, ebenso die Einbeziehung des öffentlichen Stadtraums. Mit interdisziplinären Schwerpunkten und einer Öffnung zum Populären sowie zum Underground gab Vujica eine neue Linie für den steirischen herbst vor. Den letzten herbst unter seiner Intendanz stellte er 1989 unter das Motto Chaos und widmete ihn der Chaostheorie und digitalen Architekturen – ein Interview mit Vilém Flusser in der Festivalzeitschrift leitete zu Horst Gerhard Haberls Intendanz (1990‒95) über. 1989 begann auch die erfolgreiche Kooperation mit der Stadt Köln, die bis zum Ende der Neunzigerjahre anhalten sollte.

1
Kurt Wimmer im Gespräch mit Peter Vujica, „Der erste Herbst des neuen Intendanten“, Kleine Zeitung, 10. September 1983, S. 25.

Biografie

Foto: Angelika Gradwohl

Peter Vujica
(*1937 in Graz; †2013 in Eisbach, Österreich)

Musikkritiker, Kulturredakteur, Komponist, Librettist, Schriftsteller (unter dem Pseudonym Peter Daniel Wolfkind), Drehbuchautor und Essayist

Studium der Germanistik, Anglistik und Musik (Klavier, Komposition)

1963–66 Dramaturg bei den Vereinigten Bühnen Graz (Oper Graz)
1966–82 Kulturredakteur der Kleinen Zeitung, Graz
1968–73 Mitbegründer und Organisator des musikprotokoll
1980–82 Direktoriumsmitglied des steirischen herbst
1983–89 Intendant des steirischen herbst
1989–2001 Leiter des Kulturressorts des Standard, Wien

Veröffentlichungen (Auswahl)
Mondnacht (Erzählungen). Wien: Europaverlag, 1972 (Neuauflage unter dem Titel Das Fest der Kröten, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985).
Der grüne Zuzumbest (Roman). Wien: Europaverlag, 1973.
Die Boten des Frühlings (Erzählungen). Wien: Europaverlag, 1975.
Graz (Bildband). Graz: Styria, 1978.
Sentimentale Geographie (Reiseskizzen). Graz: Styria, 1979.
Dächer (Bildband). St. Pölten: Niederösterreichisches Pressehaus, 1980.
Steiermark exklusiv (Bildband). Graz: Styria, 1995.

Festivalausgaben

Retrospektive
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